Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Führerhäuschen.
»Darf man denn einfach ohne Erlaubnis mit einer Lokomotive in eine fremde Wohnung hineinfahren?« flüsterte er besorgt.
»In diesem Fall geht es nicht anders«, antwortete Lukas leise.
»Jetzt müssen wir erst mal die Lage auskundschaften.« Sie ließen Emma stehen, schärften ihr aber ein, sich ja mucksmäuschenstill zu verhalten. Dann schlichen sie, Lukas voran und Jim hinter ihm drein, den langen finsteren Flur entlang. An jeder Türöffnung blieben sie stehen und lugten vorsichtig in die Räume hinein. Nirgends war jemand zu sehen, weder ein Mensch, noch ein Drache. Alle Möbel in den Zimmern waren ganz und gar aus Steinen: Steintische, Steinsessel, Steinsofas, auf denen Steinkissen lagen, und an einer Wand hing sogar eine große Uhr, ganz und gar aus Steinen , deren Tick-Tack unheimlich steinern durch die Stille klang. Fenster gab es nicht, statt ihrer befanden sich in den Wänden ziemlich hoch oben Löcher, durch die trübes Tageslicht hereinfiel.
Als die beiden Freunde sich vorsichtig dem anderen Ende des Ganges näherten, hörten sie plötzlich aus dem letzten Zimmer eine schrille, häßliche Stimme, die laut und wütend aufbrüllte. Dann war es wieder still. Jim und Lukas lauschten angespannt. Jetzt kam es ihnen vor, als vernähmen sie ganz leise, kaum hörbar, eine ängstliche Kinderstimme, die stockend etwas aufsagte. Die Freunde wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Rasch schlichen sie auf die Tür dieses Raumes zu und spähten hinein.
Vor ihnen lag ein großer Saal, in dem drei Reihen steinerner Schulbänke standen. An diesen Pulten saßen etwa zwanzig Kinder aus den verschiedensten Ländern, Indianerkinder und weiße Kinder und kleine Eskimos und braune Jungen mit Turbanen auf dem Kopf, und in der Mitte saß ein ganz entzückendes kleines Mädchen mit zwei schwarzen Zöpfen und einem zarten Gesicht wie eine mandalanische Porzellanpuppe. Das war ohne Zweifel Prinzessin Li Si, die Tochter des Kaisers von Mandala.
Alle Kinder waren mit Eisenketten an die Schulbänke gefesselt, so daß sie sich zwar bewegen, aber nicht weglaufen konnten. An der hinteren Wand des Saales stand eine große steinerne Schultafel, und daneben erhob sich wie ein Kleiderschrank ein riesiges Pult aus einem Felsblock. Dahinter saß ein ganz besonders scheußlicher Drache. Er war noch ein gutes Stück größer als Emma, die Lokomotive, aber sehr viel dünner, geradezu mager. Er hatte eine spitze Schnauze, die mit dicken Warzen und Borsten bedeckt war. Die kleinen stechende n Augen blickten durch funkelnde Brillengläser, und in der Tatze hielt er einen Bambusstock, den er beständig durch die Luft pfeifen ließ. Ein dicker Adamsapfel tanzte in dem langen dünnen Hals auf und nieder, und aus dem großen grausamen Maul ragte ein einziger langer Zahn unsagbar abstoßend hervor. Es war klar: Dieser Drache konnte niemand anderer sein als Frau Mahlzahn.
Die Kinder saßen alle sehr aufrecht da und wagten nicht, sich zu bewegen. Sie hatten ihre Hände vor sich auf die Pulte gelegt und blickten mit angstvollen, verstörten Augen auf den Drachen.
»Das sieht ja aus wie eine Schule«, flüsterte Lukas Jim ins Ohr.
»O jemine!« hauchte Jim, der noch nie eine Schule gesehen hatte. »Is’ Schule immer so?«
»Gott bewahre!« raunte Lukas. »Manche Schulen sind sogar ganz nett. Allerdings sind dort keine Drachen als Lehrer, sondern einigermaßen vernünftige Leute!«
»Rrrrrruhe!« schrie jetzt der Drache und ließ den Stock durch die Luft pfeifen. »Werrrr hat da eben geflüsterrrrt?« Lukas und Jim verstummten und zogen ihre Köpfe zurück. Angstvolles Schweigen herrschte in der Klasse.
Jims Blick wanderte immer wieder zu der kleinen Prinzessin hin. Und jedesmal, wenn er sie ansah, gab es ihm einen kleinen Stich im Herzen. Die kleine Prinzessin gefiel ihm gar zu gut. Er konnte sich nicht erinnern, jemals vorher jemand getroffen zu haben, der ihm gleich von Anfang an so sehr gefallen hatte.
Außer Lukas natürlich. Aber das war etwas ganz anderes. Lukas war nicht gerade schön, das konnte man bei aller Freundschaft nicht behaupten. Aber die kleine Prinzessin war es. Sie war so reizend und schien dabei so zart und zerbrechlich , daß Jim sofort den Wunsch hatte, sie zu beschützen. Alle Angst war plötzlich wie weggeblasen, und er war fest entschlossen, Li Si zu befreien, koste es, was es wolle!
Der Drache funkelte die Kinder mit seinen Brillengläsern wütend an und schrie mit einer schrillen, keifenden
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