Jimmy, Jimmy
einer Grippe. Mir tat der Bauch weh, und sie war sich sicher, dass sie eine Blinddarmentzündung hatte. Auch aktuell gibt es in ihrem Leben selbstverständlich eine Tragödie, die mit meiner konkurrieren kann: Ihre neunzehnjährige Schwester Win hat ein Baby bekommen, und ihre Eltern sind nicht wirklich glücklich darüber. Als würde mich das jetzt interessieren.
Noch eine SMS, und ich denke, vielleicht ist es Sean. Er ist es nicht. Es ist wieder Jill. Ich lese ihre SMS wieder nicht. Ich sehe auf die Uhr. Neun, und immer noch kein Lebenszeichen von Sean. Vielleicht läuft er irgendwo da draußenmit wehendem Umhang und einem knappen Höschen über knallengen Leggins herum und hält sich für einen seiner Comic-Helden. Vielleicht rettet er das Universum, der Wunderknabe. Und fragt sich, wohin er eigentlich unterwegs ist.
4
Halb elf. Ich gehe wieder nach unten. Im Keller reden Mam und Dad, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, dass es ein ganz normales Erwachsenengespräch ist. Es funktioniert nicht. Ich höre immer nur Jimmys »Die mögen mich nicht«. Er ist nur ein Kind , sage ich mir, Kinder vergessen solche Dinge schnell, das weißt du doch. Und wenn sie zum ersten Mal ihr schönes neues Zimmer sehen, wahrscheinlich erst recht. Den Fernseher, die Xbox, den CD-Player, den Hometrainer und all die anderen tollen Sachen.
Dads neues Zimmer liegt nicht wirklich im Keller. Es ist eher eine kleine Souterrainwohnung, die zur Hälfte unter der Erde und zur Hälfte darüber liegt. Es ist also nicht so, dass wir ihn in ein Verlies gesteckt hätten. Trotzdem fanden wir die Idee erst grässlich. Aber der Beschäftigungstherapeut, der extra kam, um mit uns über Dads »Wohnsituation« zu sprechen, fand, dass er dort am meisten Platz hätte.
Unser Haus sieht von außen groß aus, aber die Zimmer sind klein, und es ist ein bisschen verwinkelt mit vielen Stufen und kleinen Treppen. Das Zimmer ist ein großer offener Raum mit Fenstern nach vorn und hinten und einer Tür zum Garten. Es ist eigentlich der hellste Raum im Hausund war mehr oder weniger schon vor dem Unfall bezugsfertig. Und das Verrückteste ist, dass Dad ihn noch selbst renoviert hat.
»Ich versauere da oben in meinem Arbeitszimmer, ich brauch dringend einen Tapetenwechsel«, hatte er eines Tages im letzten Sommer verkündet. »Die Frage ist nur noch: das Souterrain oder Paris.«
»Ich kann dir übers Internet einen Flug buchen«, sagte ich.
»Und ich spendiere einen Reiseführer«, fügte Mam hinzu.
»Haha. Was sind wir mal wieder ein witziger Haufen!«
Drei Monate lang verbrachte Dad jede freie Minute da unten. Er riss eine Trennwand ein und isolierte die Außenwände. In eine Nische baute er ein kleines Bad mit Dusche. Sean half ihm bei den schwereren Sachen, und ich übernahm einen Teil der Anstreicharbeiten. Es folgten tagelange teils frustrierende, teils komische Erfahrungen mit Selbstaufbauregalen, dann war das neue Arbeitszimmer so weit. Nur Dad war es nicht.
Er verschob den Umzug immer wieder auf die Zeit, wenn er endlich die Peter-der-Panzer-Reihe fertig hätte. Dazu muss man wissen, dass er normalerweise erst eine Figur erfand, danach fünf bis sechs Plots ausarbeitete und die Sache dann in ein paar Monaten zu Ende brachte. Natürlich gab es Zeiten, in denen es langsamer voranging und man sah, dass ihm die Arbeit Mühe machte. Nicht dass er in solchen Phasen nur noch vor sich hin gebrütet hätte, aber man konnte ihn schon mal minutenlang ins Kaminfeuer im Wohnzimmer starren sehen. Wenn ich ihn dann fragte, woran er denkt, spielte er den witzigen Franzosen: » Ah, les profonditées de l ’ éxistence! «
Der letzte Band der Peter-der-Panzer-Reihe war so ein Fall, wo er Mühe hatte, zumal ihm ein paar andere wichtige Dinge dazwischenkamen. Es kamen Werbeaufträge herein, die er wegen der guten Bezahlung nicht ablehnen konnte. Der Erscheinungstermin eines wichtigen Buches, das er illustrieren sollte und auch wollte, wurde vorverlegt. Und zu allem Überfluss stürzte auch noch sein Computer ab und geriet in Brand. Das Glück im Unglück war, dass er den größten Teil seiner Arbeiten doppelt gesichert hatte, aber es dauerte ewig, bis auf seinem neuen Laptop alles so eingerichtet war, wie er es brauchte. Was bedeutet, dass die Peter-der-Panzer-Reihe nun nie mehr fertig werden wird. Selbst wenn er sich irgendwann daran erinnern würde, dass es dieses fehlende letzte Peter-der-Panzer-Buch
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