Joanna Bourne
verläuft ostwärts Richtung Brücke nach Paris, wo Männer Eures Berufsstandes sicherlich Freunde haben. Und wenn Ihr dort hinauf Richtung Westen geht, erreicht Ihr nach einiger Zeit England, wo Ihr ohne Zweifel noch mehr Freunde habt. Der schwache Wind, der uns ins Gesicht bläst – fühlt doch mal – kommt aus dem Wald im Nordosten, vom Bois de Boulogne.«
Er schloss die Augen und versuchte, die Strömungen der Nacht so wie sie zu erspüren. Sie hatte recht. Es war leichter zu hören und den Wind auf der Haut zu spüren, wenn man nicht krampfhaft versuchte, etwas zu sehen. »Ihr seid eine wahre Meisterin. Mit dem Herumschleichen im Dunkeln kennt Ihr Euch aus.«
»Besser als mir lieb ist. Das stimmt.«
»Habt Ihr das alles von Vauban gelernt? Ihr gehörtet zu seinen Leuten, nicht wahr?«
»Ihr stellt viele Fragen. Habe ich Euch das erlaubt? Nun hört zu, dann werde ich Euch ein paar Geheimnisse verraten. Wenn Ihr Euch gegen den Wind dreht, werdet Ihr immer wissen, wo Ihr seid. Aus dieser Richtung könnt Ihr den Fluss riechen.« Er hörte, wie sie schluckte. »Den Geruch von Wasser.«
Und damit hatte er den Köder, mit dem er sie würde anlocken können. Ihre Stimme hatte sie verraten. Das Wasser im Auffangbecken des Gartens hatte gerade ausgereicht, um sich damit den Mund zu befeuchten. Sie hatte Durst, brennenden Durst.
Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich bin froh, wenn wir endlich bei der Kapelle sind. Dort gibt es hoffentlich Wasser.« Er spürte die Spannung, mit der sie ihm zuhörte. Gut.
»Das ist sehr wahrscheinlich.«
Er fand weitere gemeine Worte. »Es dürfte einen Brunnen dort geben. Ob wir wohl einen Eimer oder Ähnliches finden, um das Wasser heraufzuholen?«
»Das werdet Ihr bestimmt herausfinden. Wie bereits gesagt; es ist nicht mehr weit.« Ihre Stimme klang belegter, und er hörte sie erneut schlucken. »Geht allein zu Eurem ach so geheimen Rendezvous, denn ich habe noch woanders zu tun. Ich bin nicht erpicht darauf, meinen Bekanntenkreis um die englische Spionagegesellschaft von Paris zu erweitern.« Doch ihre Stimme verriet, dass sie nur noch an Wasser dachte.
»Wahrscheinlich ist niemand da. Ich kann mich nicht alleine um Adrian kümmern. Und Ihr könnt mir dabei so gut helfen.«
»Nötigt mich nicht dazu, Monsieur.« Er hörte das Schaben des Besenstiels auf der staubigen Straße. »Das ist kein schöner Charakterzug.«
»Er benötigt Eure Hilfe. Wie weit ist es noch? Einhundert Schritte?«
Sie schnaubte, auf diese köstlich ärgerliche, französische Art. »Ich habe keine Ahnung, wie die Engländer zu ihrem Ruf, sie seien stoisch, gekommen sind, denn Ihr zumindest seid es überhaupt nicht.« Sie packte Adrian fester. »Kommt schon. Lasst uns endlich das Wasser suchen, von dem Ihr so besessen seid. Auf jeden Fall dürfen wir nicht mehr hier herumstehen und schwätzen, sodass man uns weit und breit hören kann. Hier ist das Tor.«
Der Besenstiel klapperte leise über die Eisengitter, als sie hindurchgingen.
»Ich werde nur bis zu den Stufen des Haupthauses gehen und keinen Schritt weiter«, kündigte sie an. »Keinen einzigen. Auch nicht, wenn Ihr noch ein halbes Dutzend weiterer junger Spione mit fürchterlichen Verwundungen aus dem Hut zaubert. Es hat überhaupt keinen Sinn, mich darum zu bitten.« Die Kiesel unter ihren Füßen knirschten, und es ging steil bergab. »Ich hatte bisher wenig mit Engländern zu schaffen, und jetzt ist mir klar, dass das sehr weise war, obwohl es sicherlich jede Menge Engländer gibt, die weitaus vernunftbegabter sind als Ihr. Vielleicht warte ich mit meinem endgültigen Urteil noch ein wenig.«
Er fand keinen Hinweis darauf, dass auch nur eine Menschenseele in der Nähe war. Andererseits würde es auch gar keine geben, zumindest dann nicht, wenn Will Doyle dort wartete.
Noch ein paar Schritte, dann blieb sie stehen. »Das gefällt mir nicht.« Wie recht sie hatte. Ihr Instinkt war ausgezeichnet. »Nein. Ich gehe keinen Schritt weiter. Nehmt den Jungen … «
Obwohl Adrian halb bewusstlos war, musste er zugehört haben. Also spielte er mit, indem er stöhnte und in sich zusammensackte.
Sie taumelte und stützte ihn. »Euer Freund ist wieder ohnmächtig geworden. Wir müssen … «
Dicht neben ihm sagte Doyle plötzlich: »Das wurde aber auch Zeit, dass ihr kommt.« Eine stämmige Gestalt löste sich aus dem Schatten. »Ich war schon kurz davor, das Gebäude zu stürmen.«
Doyle. Gott sei Dank. Eine zentnerschwere Last fiel von ihm ab.
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