Joanna Bourne
»Adrian ist verletzt.«
In dem Moment, als das Mädchen Doyles Stimme vernahm, ließ sie Adrian los und rannte zurück in den Wald, wo sie in sicherer Entfernung still verharrte.
»Ich nehme ihn.« Doyle war groß und stark. Er legte sich Adrian über die Schulter und trug ihn. »Ich hörte davon, dass er sich eine Kugel eingefangen hat. Wir haben uns schon gefragt, wie ernst es ist. Ich habe vorsichtshalber eine Kutsche gestohlen. Sie steht da unten.«
»Gut.« Er drehte lauschend den Kopf, um das Mädchen auszumachen. Da. Ihr leises Atmen verriet sie. Fühl dich ruhig sicher im Dunkeln, Annique. Nur zu. »Ich brauche Wasser für meine Führerin«, rief er Doyle hinterher.
Er hätte schwören können, dass Doyle seine Gedanken las. »In der Kutsche sind ein paar schön kalte Flaschen. Ich bring sie mit. Klares, sauberes Wasser.« Seine ruhig vorgetragenen Worte waren spontan und goldrichtig.
Er spürte das Zittern in Anniques schweigendem Warten. Denk nur immer schön an das Wasser, Annique. Immer schön daran denken, wie durstig du bist. »Ich hole Euch eine Flasche, Mademoiselle, als Zeichen meines Dankes. Das ist das Mindeste, was ich Euch schulde.«
Sie zögerte. In einem kurzen Moment der Unentschlossenheit war das verräterische Rascheln ihrer Kleidung zu hören. Sie musste nach Wasser lechzen.
Wenn er sie zu packen versuchte und sie dabei verfehlte, wäre seine Chance vertan. In der Dunkelheit war sie zu schnell und kam einfach zu gut mit ihrem Stock zurecht. Er musste es von Nahem versuchen. »Einen kleinen Moment«, bat er mit sanfter Stimme. »Ich hole Wasser.«
Der Geruch von frischer Farbe führte ihn zur Kutsche und den zarten Fäden eines Spinnennetzes an einer mit einem Blechdeckel abgedunkelten Laterne. Als er diesen zur Seite klappte, erhellte ein Lichtkeil den mit Unkraut bewachsenen Hof.
Doyle verfrachtete Adrian in die Kutsche. »Wo hat’s dich erwischt, Kleiner? An der Schulter? Nein. Mehr an der Brust. Nur die eine Kugel?«
Adrian krächzte: »Eine reicht doch wohl … oder? Die Weste ist auf jeden Fall hinüber.«
Die Kutsche wackelte, als Doyle dem Jungen eine Decke überlegte. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich das deinem Schneider erklären soll. Hier, nimm ’nen Schluck Wasser, bevor du uns umkippst.«
»Stell es irgendwo ab, wo ich drankomme. Lass uns von hier verschwinden.«
»Und wer musste sterben, als er dir die Kugel verpasst hat, Junge? Das erzählst du mir noch irgendwann.« Doyle schwang sich von der Kutsche. »Er wird’s schaffen. Wie viele sind hinter Euch her?«
»Das ganze Wespennest. Ich werde meine Führerin bezahlen, und dann können wir los. Wo ist das Wasser?« Er schwang die Laterne herum. Ja. Oh, ja. Jetzt hatte er sie. Sie wartete mit ausreichendem Abstand zum Lichtschein und war Teil der sie umgebenden Schatten … klug und wachsam. Doch für ihre Wachsamkeit war es jetzt zu spät.
Doyle und Grey sahen sich an. »Natürlich. Kommt sofort, Sir.« Hand um Hand erklomm Doyle die Sprossen zum Kutschdach und dies mit der merkwürdig langsamen und schwerfälligen Grazie eines großen Braunbären. »Ich habe auch was zu essen da. Einen ganzen Korb voller Brot, Käse, Würste. Auch Wein.«
Irgendwo in der Dunkelheit würde Annique lauschen. Sie musste hungrig sein, denn dafür dürfte Leblanc schon gesorgt haben. »Ich nehme auch ein Stück Brot. Doch zuerst das Wasser. Gib mir etwas, womit es sich gut tragen lässt. Die Wasserflasche. Die da.«
Doyle reichte ihm eine Wasserflasche und einen halben Laib frisch gebackenen, duftenden Brotes. Mehr brauchte er nicht als Köder. Er hatte sie. Jetzt konnte die Falle zuschnappen.
»Mademoiselle?«
Voller nervöser Vorsicht war sie noch tiefer in die Dunkelheit zurückgewichen. Als er sich mit der Laterne näherte, konnte er erkennen, dass sie die Augen geschlossen hielt. So bewahrte sie sich also ihr erstaunliches Nachtsehvermögen. Andererseits wusste er, wie clever sie war.
Sie stützte sich schwer auf den alten Besenstiel, den sie aufgelesen hatte. Ihre Kleidung strotzte vor Schmutz und Spinnweben, ihre Haut war vor Erschöpfung leichenblass. Allein, hundemüde und zu Fuß – was glaubte sie eigentlich, wie weit sie käme, bevor Leblanc sie aufgriff? In Wahrheit tat er ihr einen Gefallen, indem er sie einsammelte. Was auch immer er mit ihr anstellte, es konnte nicht schlimmer sein als das, was Leblanc vorhatte.
Er stellte die Laterne vorsichtig auf den Boden, um die Hand frei zu haben.
In der
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