Joe Golem und die versunkene Stadt
beobachten, der sich unter ihr hinzog. Als sie hörte, wie der Gas-Mann den Gang entlangkam, verhielt sie sich vollkommen still und rührte sich nicht. Selbst ihr Herz schien stehen zu bleiben, so groß war ihre Angst, ein Geräusch zu machen, das diese Kreatur hören könnte.
Der Gas-Mann stapfte an der schmalen, fast versteckten Dachbodentreppe vorbei. Molly sah ihm nach, und ihr Herz machte einen kleinen, freudigen Hüpfer. Sie hatte dieses Monstrum endlich von ihrer Spur abgebracht.
Plötzlich aber zögerte der Gas-Mann und verharrte. Mollys Hochgefühl verflog. Der Riese drehte sich halb um. Seine massige Gestalt füllte den engen Korridor fast gänzlich aus. Molly sah die flackerndenFlammen der Wandlampen auf dem schwarzen Gummi seiner Gasmaske schimmern.
Die Bewohner des Gebäudes ließen sich nicht blicken. Offenbar hatten sie den Lärm des Gas-Mannes gehört und fürchteten sich zu sehr vor ihm, um ihn aufzuhalten oder Molly auf andere Weise zu helfen.
Bitte, nein , dachte Molly. Ich bin nicht hier. Geh einfach weiter.
Aber das tat er nicht. Stattdessen griff er an seine Maske und löste eine Schnalle am Hinterkopf. Dann zog er sich die Maske vom Gesicht. Ein Zischen war zu vernehmen, und ein widerlicher gelber Nebel schoss aus dem Spalt. Er hob die Maske nur ein wenig an, und da seine Züge von den gelben Schwaden verschleiert wurden, konnte Molly sein Gesicht kaum erkennen. Aber das wenige, was sie sah, erschreckte sie bis ins Mark und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Das Scheusal begann zu schnüffeln. Das Geräusch klang widerlich.
Molly begriff.
Das Ungeheuer nahm ihre Witterung auf.
Sie unterdrückte einen Schrei. Am liebsten hätte sie geweint, kämpfte aber tapfer dagegen an. Schließlich war sie vierzehn Jahre alt. Außerdem hatte sie sich geschworen, dass alle ihre Tränen bereits vergossen waren. Es war ein törichter Schwur, das wusste sie, auch wenn sie ihn nur sich selbst gegeben hatte. Doch heute war nicht der Tag, diesen Schwur zu brechen. Felix brauchte sie. Solange er lebte, würde sie ihn nicht im Stich lassen.
Molly flitzte los, rannte geduckt den Kriechgang entlang und stürmte die große Treppe hinunter. Dann riss sie die Tür auf und fand sich in einem Flur wieder, der nur zehn Fuß vom oberen Ende der Wendeltreppe entfernt lag, die sie gleich nach Betreten des Gebäudes benutzt hatte. Trotz aller Vorsicht und ihrer Kenntnis des labyrinthischen Gebäudes hatte sie nur Sekunden gewonnen.
Auf der linken Seite stand die Tür zum Dach offen. Molly rannte hindurch und ins Sonnenlicht. So schnell sie konnte, stieg sie eine rostpockige Eisenleiter hinauf. Augenblicke später befand sie sich am höchsten Punkt des Gebäudes. Der Dachboden, auf dem sie sich eben noch versteckt hatte, lag nun unter ihren Füßen.
Ein Pärchen machte ein Picknick auf dem Dach, ein junger Mann und ein junges Mädchen, beide um die zwanzig. Sie blickten in Richtung Uptown und träumten wahrscheinlich von einem Leben jenseits der Armut und des Verfalls der Versunkenen Stadt. Sie lagen auf einer ausgeblichenen Decke, mit einer Flasche hausgemachten Weins und ein paar armseligen Sandwiches.
Ihre Köpfe ruckten zu Molly herum.
»He!«, rief der junge Mann. »Was willst du hier?«
»Haut ab«, sagte Molly und wedelte mit den Händen, als wollte sie die beiden verscheuchen wie Vögel. »Versteckt euch oder flieht! Versucht bloß nicht, ihn aufzuhalten!«
»Wen?«, fragte das junge Mädchen.
Doch ihr Freund schien die Gefahr zu spüren und war entschlossen, seine Freundin zu beschützen. Er zerschlug die Weinflasche an einem Kamin, sprang auf und hob den abgebrochenen Flaschenhals. Seine Augen funkelten vor Kampfeslust.
Molly rannte an ihm vorbei zum hinteren Rand des Daches. Das Dach des angrenzenden Gebäudes an der 27 th Street lag nur zehn Fuß tiefer. Vor Jahrzehnten war hier eine Holztreppe gebaut worden, aber die Stufen waren wacklig und wenig vertrauenerweckend. Neben der Treppe hing ein schweres Kabel. Molly zog ihre Bluse aus, wickelte sie um das Kabel, hielt sich fest und sprang auf das andere Dach hinüber. Sofort rannte sie weiter. Ihr Haar flatterte, und sie versuchte, sich die Bluse wieder überzustreifen, ohne zu stürzen.
Auf dem Dach gegenüber fing das junge Mädchen zu schreien an. Ihr Freund gab keinen Laut von sich. Molly fragte sich, ob er schon so tot war wie die Mendehlsons.
Am Rand des Daches wurde sie langsamer. Vor ihr erstreckte sich die 27 th Street in ganzer
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