Joe Golem und die versunkene Stadt
blickte in kalte graue Augen, die sie mit einem traurigen, aber weisen Ausdruck aus einem narbigen, gräulichen Gesicht musterten. Der Neuankömmling
trug einen langen grauen Mantel und hatte den stämmigen Körperbau eines Boxers aus alter Zeit oder eines Geldeintreibers, der säumigen
Schuldnern in einer abgelegenen Gasse die Knochen brach. Mit seinem dicken Hals, dem kantigen Kinn, der flachen Nase und den zu kleinen Ohren war er ein
Ausbund an Hässlichkeit, doch Molly nahm auch seine stille, innere Ruhe wahr.
Zuerst hieltsie ihn für um die fünfzig, erkannte dann aber, dass er nicht älter sein konnte als dreißig. Aber es mussten dreißig harte Jahre gewesen sein, so wie er aussah.
»Entschuldigung, ich …«
»Bist du Molly McHugh?«, fragte er. Seine Stimme war tief und zugleich kratzig wie Sandpapier.
Erstaunt, dass er ihren Namen kannte, wich Molly vor ihm zurück.
»Wer sind Sie?«
»Joe.«
Er sagte es, als wäre eine erschöpfendere Antwort nicht erforderlich. Dann musterte er sie, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen. Als Molly den Mund öffnete, um weitere Erklärungen zu verlangen, schob er sie wortlos zur Seite. Molly stieß gegen das Geländer und drehte sich um – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Gas-Mann über die Chinesische Brücke auf sie zustürmte.
Joe legte in aller Ruhe seinen langen Mantel ab und ballte seine gewaltigen Fäuste. Er trug weder Jackett noch Krawatte, aber seine Hose war sauber und gebügelt, und seine altertümlichen Hosenträger stammten aus einer längst vergangenen Zeit.
Der Gas-Mann näherte sich mit schweren Schritten, düster und drohend, und streckte die Hand nach Joe aus, aber der lächelte bloß.
----
Kapitel 4
J oe trat einen Schritt vor und verpasste dem Gas-Mann einen so wuchtigen Schlag, dass mit einem Zischen wie von einer Dampfmaschine gelber Nebel aus den Säumen seines schwarzen Taucheranzugs pfiff.
Molly wich an das Brückengeländer zurück. Sie erkannte, dass es sich um das gleiche Gas handelte, das unter der Maske des Ungeheuers hervorgequollen war.
Gift? O Gott! Was, wenn das Gift ist?
Sie packte Joe an dem hochgekrempelten Hemdsärmel und versuchte, ihn zurückzuzerren, aber seine Kraft war so gewaltig, dass sie ihn keinen Zoll weit in ihre Richtung bewegen konnte. Sie hakte die Finger in seine Hosenträger, doch mit einem leichten Klaps aus dem Handgelenk schob er sie weg. In diesem Moment stürzte sich der Gas-Mann auf ihn und schwang die Faust mit aberwitziger Geschwindigkeit. Der Hieb traf Joe mit zerschmetternder Kraft an der Schläfe. Molly schrie gellend auf. Sie glaubte schon zu sehen, wie Joe tot zu Boden stürzte.
Doch er schüttelte nur den Kopf. Dann drang er auf den Gas-Mann ein, wobei er die mächtigen Fäuste schwang. Doch der Gas-Mann hieltdem Angriff stand. Joe musste genauso viele Schläge einstecken, wie er austeilte. Dennoch schien seine Entschlossenheit mit jedem Treffer, den sein Gegner landete, zu wachsen.
Plötzlich wandte der Gas-Mann sich ab, als wollte er die Flucht ergreifen. Dann aber packte er einen der Pfähle mit den Lampions, brach ihn ab und holte damit aus wie mit einer riesigen Keule.
»Pass auf!«, schrie Molly Joe zu, gefangen zwischen der Angst um ihren Retter und dem instinktiven Verlangen, die Flucht zu ergreifen. Doch der Mann namens Joe setzte sein Leben aufs Spiel, um sie zu retten. Sie konnte nicht einfach davonlaufen.
Und Mollys Angst hielt nicht lange an, denn Joe duckte sich unter dem Lampion hinweg, stürmte vor und drosch dem Gas-Mann die Fäuste in den Unterleib. Wieder entwich gelber Nebel aus den Säumen des Taucheranzugs. Der Gas-Mann stöhnte auf, und Molly glaubte zu sehen, wie sich unter dem Gummianzug sein Fleisch kräuselte. Dann fuhr er wieder herum, schneller noch als zuvor, und diesmal traf er sein Ziel. Der Lampion krachte mit fürchterlicher Wucht gegen Joes Kiefer. Der große Mann taumelte zurück, für den Moment gelähmt.
Der Gas-Mann hielt den abgebrochenen Laternenpfahl fest in seinen behandschuhten Händen und stürmte vor, wobei er mit der gezackten Bruchstelle des Pfahles auf Joes Herz zielte. Doch Joe wich gedankenschnell zur Seite, und der Pfahl zuckte an ihm vorbei. Sofort packte er ihn und zog seinen Angreifer zu sich heran. Seine Faust umschloss das Handgelenk des Gegners und verdrehte es weit genug, um den Knochen zu brechen. Der Gas-Mann stieß ein Kreischen aus, das von der Maske gedämpft wurde, und streckte die Hand nach Joes
Weitere Kostenlose Bücher