Joe Golem und die versunkene Stadt
Kehle aus. Molly sah, wie Joe seinen Griff um das Handgelenk des Gas-Mannes verstärkte. Er zerrte daran, riss es hin und her, als wollte er einer Puppe den Arm abreißen.
Der Taucheranzug platzte am Schultersaum auf. Blut und kränklich gelber Nebel sprühten aus dem Spalt. Joe verdrehte den Arm seines Gegners mit brutaler Kraft und riss ihn an der Schulter ab, begleitet von einem widerlichen feuchten Schmatzen und Bersten der Sehnen und Muskelfasern.
Molly stieß einen angeekelten Schrei aus.
Als der abgebrochene Laternenpfahl scheppernd auf die Brücke fiel, drehte Joe sich zu ihr um, den abgerissenen Arm noch in der Hand.
»Was hast du getan?«, fragte Molly mit bebender Stimme.
Der Gas-Mann brach auf den Brückenplanken zusammen. Molly und Joe beobachteten, wie sein Körper in sich zusammenfiel wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich. Binnen weniger Augenblicke verlor er seine menschliche Gestalt. Der Taucheranzug bebte; dann fiel er mitsamt dem langen Mantel des Gas-Mannes zu Boden. Schaudernd sah Molly, dass sich irgendetwas darin schlängelte.
»Was ich getan habe? Gute Frage«, sagte Joe. Er starrte auf den Taucheranzug, der sich wie ein Wurm hin und her wand.
Jetzt, wo das Gas aus dem feucht glänzenden Anzug entwichen war, bockte und schüttelte sich sein Inhalt wie ein riesiger Aal. Was immer es war, es sprang zum Rand der Brücke und zerrte den Anzug mit sich. Joe bückte sich und griff danach. Die Nähte seines teuren Hemds spannten sich unter seinen gewaltigen Muskeln, aber er war nicht schnell genug. Das Etwas stürzte über den Rand ins Wasser und verschwand in der Schwärze. Nur die hässliche Gasmaske blieb zurück.
»So ein Hurensohn«, grollte Joe.
Er blickte in das kabbelige Wasser, in dem das merkwürdige, aalartige Wesen verschwunden war, aber es tauchte nicht wieder auf.
Molly versuchte, nicht auf den abgerissenen Arm zu schauen, den Joe noch immer in der Hand hielt. Ihr wild pochendes Herz beruhigte sich allmählich. Doch immer wieder musste sie an den kurzen Blick denken, den sie auf das Gesicht hinter der Gasmaske erhascht hatte, und jedes Mal durchlief es sie eiskalt.
Die Gasmaske lag auf den Planken der Brücke, als wartete sie nur darauf, aufgenommen zu werden.
Joe hob seinen Mantel auf und zog ihn sich über. Seine grauen Augen nahmen die Farbe von Gewitterwolken an, als er Molly anblickte. Er ging auf sie zu. Sie wich einen Schritt zurück, floh aber nicht. Trotz des abgerissenen Arms, der aus seiner Hand hing, wirkte Joe nicht bedrohlich; stattdessen vermittelte der Ausdruck der Freundlichkeit in seinen Augen Molly ein Gefühl der Geborgenheit, wie sie es nie gekannt hatte. Selbst in Felix’ Theater hatte sie stets die Gefahren der äußeren Welt gefürchtet, so fürsorglich der alte Beschwörer sie auch behandelte. Doch Joe mit seinen Narben und seinem geradezu monströsen Körper ließ Molly alle Ängste vergessen.
»Danke«, sagte sie und fragte sich, was aus Felix geworden war und ob er überhaupt noch lebte.
Joe ging in die Hocke. Er betrachtete die Gasmaske, hob sie aber nicht auf.
Ein Stück die Brücke hinunter erklangen Schritte und weckten die Aufmerksamkeit Joes und des Mädchens. Als beide sich umdrehten, sahen sie zwei weitere Gas-Männer von der Größe gewöhnlicher Menschen, die ihrem hünenhaften Kameraden offenbar vom Theater aus gefolgt waren. Die beiden kamen auf die Chinesische Brücke gerannt, blieben aber ruckartig stehen, als sie die leere Gasmaske auf den Planken zwischen Joe und Molly erblickten – und den abgerissenen Arm in Joes Hand.
Joe stieß ein kurzes, humorloses Lachen aus und ging den Neuankömmlingen ein paar Schritte entgegen.
»Ich hab wohl zu fest zugeschlagen, was?«, rief er den beiden zu. »Vielleicht versuch ich’s bei euch beiden ’n bisschen sanfter.«
Wortlos drehten die Gas-Männer sich um und flohen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie rannten zum anderen Ende der Chinesischen Brücke und verschwanden um die Ecke.
Molly sah einen Hoffnungsschimmer. Wer oder was auch immer diese Gestalten waren – sie hatten Felix in ihrer Gewalt. Wenn sie ihnen folgte, bekam sie vielleicht die Chance, dem alten Beschwörer zu helfen.
Sie eilte los, wollte den beiden Gas-Männern hinterher, kam aber nur drei Schritte weit, ehe Joe sie beim Arm packte.
»Nein«, sagte er. »Die holst du nicht ein. Und wenn doch, bereust du’s.«
Molly starrte ihn wütend an und versuchte sich loszureißen. »Sie verstehen
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