Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Mignola
Vom Netzwerk:
Brücke zu fahren war nicht ratsam, weil Teile von ihr   – von Erdstößen oder dem Zahn der Zeit gelockert   – hin und wieder herunterfielen, meist im ungünstigsten Augenblick. Joe wusste von einigen Leuten, die bei solchen Unfällen ums Leben gekommen waren.

    »Warst du schon oft aus Manhattan raus?«, fragte er das Mädchen. Er entfernte sich ein wenig von der Brücke, behielt aber den Kurs bei.
    Molly lehnte sich an die Kajütentür. Ihr feuchtes, zimtbraunes Haar klebte ihr am Kopf. Den Wettermantel hielt sie am Hals mit der Faust geschlossen; sie wollte, dass ihre Kleider diesmal trocken blieben.
    »Nur das eine Mal, als ich Felix verfolgt habe.«
    Mit beiden Händen am Rad blickte Joe sie an. »Brooklyn ist auch überflutet. Früher war New York in fünf Stadtbezirke unterteilt, und die Leute waren stolz auf das Viertel, aus dem sie kamen. Heute hat die Stadt nur noch zwei Teile   – den überfluteten und den nicht überfluteten. Es gibt Uptown und alles andere.«
    Molly strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Glaubst du, das weiß ich nicht? Ich habe hier mein ganzes Leben verbracht. Ich bin vielleicht erst vierzehn, aber ich habe genug gesehen und kenne die Stadt genauso gut wie du. Vielleicht sogar besser. Ich habe gesehen, wo du wohnst. Du machst dir keine Vorstellung, wo ich gehaust habe, bevor ich Felix begegnet bin.«
    Molly verstummte. Joe runzelte die Stirn, als er den Schmerz in ihrem Gesicht sah. Er hätte sie gern gebeten, ihr von den Hässlichkeiten zu erzählen, die sie in den Jahren, ehe sie unter Felix Orlovs Obhut kam, hatte erdulden müssen. Doch er wollte sie nicht drängen; er wollte, dass sie sich entspannte und ihm öffnete. Er hätte das Schweigen beenden können, indem er von sich erzählte, aber damit hätte er Molly alles andere als entspannt.
    In strömendem Regen überquerten sie den Meeresarm, den die Leute immer noch den East River nannten. An einem klaren Tag hätten sie die Gebäudedächer und Bäume von Brooklyn Heights sehen können, doch bei dem schlechten Wetter musste Joe nach Gedächtnis steuern. Vom Wind getriebene Wellen klatschten gegen den Rumpf, und das Boot schwankte so heftig, dass Molly sich festhalten musste. Doch sie ertrug lieber den Sturm, als allein in der Kajüte zu sitzen. Joe begriff, dass es Molly vermutlich genau darum ging   – sie wollte nicht alleine sein.
    »Du hast sicher Schlimmes durchgemacht, Kleine, nicht wahr?«
    Molly sah ihn an, als wollte sie wütend auf ihn werden. Dann aber lächelte sie widerstrebend und schüttelte den Kopf.
    »Warum haue ich dir keine runter, wenn du mich ›Kleine‹ nennst? Ich verstehe es nicht.«
    »Es ist ein Kosewort. Es ist liebevoll gemeint, nicht abwertend.«
    »Ich glaube, für einen Kerl mit dem Gesicht eines Boxers, der zu oft eins auf die Nase gekriegt hat, bist du ganz in Ordnung«, erwiderte Molly, das Kinn erhoben, und blickte ihn herausfordernd an.
    Joe lachte. »Hast du bei Orlov auch so ’ne dicke Lippe? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er dich längst rausgeschmissen.«
    Als der Name des Beschwörers fiel, zerbrach Mollys mühsam aufrechterhaltene Fassade der Tapferkeit, und Joe verfluchte sich insgeheim, die Sprache auf Orlov gebracht zu haben. Aber jetzt, wo er einmal davon angefangen hatte, konnte er auch beim Thema bleiben. »Wie kommt es eigentlich, dass du bei ihm wohnst?«, wollte er wissen.
    Molly wischte sich wieder das Haar aus dem Gesicht, zog sich die Kapuze des leuchtend gelben Regenmantels über den Kopf und blickte nach vorn auf die Umrisse von Brooklyn Heights, das sich langsam aus dem Wasser erhob.
    »Du möchtest meine Geschichte gar nicht hören, glaub mir«, sagte sie schließlich. »Wenn du hier in der Stadt als Detektiv oder so was arbeitest, hast du solche Geschichten sowieso schon oft gehört. Es sind Geschichten über Nächte voller Angst in hässlicher Umgebung und inmitten von Leuten, die kein Gewissen haben. Für mich kam erst durch Felix die Wende. Als ich Hilfe am dringendsten nötig hatte, ist er in letzter Sekunde aufgetaucht. Er hat mir einen Grund gegeben, wieder daran zu glauben, dass es noch Menschen gibt, die nicht durch und durch verdorben sind.«
    Joe drehte ein wenig am Ruder und beobachtete wachsam die Oberfläche des East River, während Brooklyn näher kam. Er kannte die Wasser von Manhattan sehr gut, aber Brooklyn war unberechenbar, und er wollte nicht mit dem Rumpf über ein niedriges Wohnhaus oder ein altes Restaurant

Weitere Kostenlose Bücher