Joe Golem und die versunkene Stadt
Wirklichkeit außerhalb des Glases.
Schau noch einmal , befahl er sich. Doch der Schmerz in seinem Herzen und die Müdigkeit seiner Beine erlaubten es ihm nicht. Außerdem brauchte er kein zweites Mal hinzuschauen. Er wusste auch so, was er gesehen hatte.
Einen gewaltigen Raum, einen fremdartigen Saal mit behaglichem Mobiliar am einen Ende, darunter ein einzelner, thronartiger Sessel. Gleich hinter der Glaswand standen mehrere Tische, die vielleicht einem Chirurgen als Operationsstätte dienen konnten – mit erhöhten Sitzreihen für Zuschauer –, wären die Tischplatten nicht konkav gewesen, ausgehöhlt und groß genug, um einen normal gebauten Menschen aufzunehmen. Die Anordnung erweckte den Eindruck, ein viktorianischer Gentleman habe das Mobiliar erworben, die Operationstische jedoch einem Schrotthändler abgekauft. Der ganze Saal wirkte wie ein Verlies mitten in einem Palast.
An mehreren Stellen wurde der Saal von großen Glasrohren durchzogen, in denen Wasser strömte und blubberte, als gehöre der Saal zu einem Kraftwerk oder als wäre er das Herzstück eines fremdartigen Experimentalaufbaus. In dem Raum standen übermannsgroße Topfpflanzen, von denen Wedel hingen; mehrere schmutzige Katzen strichen auf der Suche nach Beute zwischen den Pflanzen umher.
Wirklich den Atem verschlagen hatte Felix jedoch der Anblick der Fenster, die in eine Wand des Saales eingelassen waren. Die meisten waren kreisförmig, einige allerdings in zahlreiche Scheiben unterteilt. Das größte durchmaß wenigstens zwanzig Fuß, andere waren klein wie Bullaugen. Dieser Vergleich war treffend, denn hinter den Fenstern war das Meer zu sehen. Felix hatte auch die Geschöpfe erblickt, die hinter den Scheiben schwammen: endlose Schwärme kleiner, flinker Silberpfeile im Schatten größerer, teils gigantischer Fische, die träge vor den Fenstern vorbeizogen und wachsam in den Raum spähten. Lange Aale ringelten sich auf, und Meerespflanzen wiegten sich im Hin und Her der See.
Von einem Raum wie diesem hatte Felix oft geträumt. Bestimmte Dinge waren anders als im Traum, aber die Fenster und Pflanzen waren gleich. Allerdings hatte es in den Träumen nur einen Tisch gegeben, jetzt standen dort drei. Der Tisch im Traum war auch eher der Opferaltar eines alten Kultes gewesen als die Operationsstätte eines Chirurgen.
Doch trotz der Unterschiede wusste Felix, dass dieser Raum ebenso zu seinen Träumen gehörte wie jener andere – Vergangenheit undZukunft hatten sich in seinem Unterbewusstsein irgendwie vermischt. Wie Eis kroch ihm eine beängstigende Frage ins Bewusstsein: Wie viele andere seiner Träume würden an diesem Ort sonst noch zum Leben erwachen?
Schmerzhaft krampften sich seine Eingeweide zusammen. Er konnte nicht hierbleiben. In seinen Träumen beobachtete er die Ereignisse als körperloses Gespenst, nicht als nutzloser Klumpen Fleisch, der in einer Art Fischbecken für Menschen gefangen war, so wie jetzt. Bedeuteten seine Träume, dass er bald sterben würde?
Wie dem auch sei, er musste raus aus dem Becken und aus dem Raum.
Molly , dachte er, und ein heftiges Schuldgefühl durchbohrte ihn wie eine Lanze. Was hatten die Mistkerle mit Molly angestellt? Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie am Leben gewesen. Er musste sie finden, musste sie in Sicherheit bringen!
Atme , befahl er sich. Bleib ruhig.
Für so gut wie jeden anderen wäre dies zu viel gewesen, Felix aber hatte seinen Körper ebenso trainiert wie seinen Verstand und seinen Geist. Als er zu Orlov dem Beschwörer geworden war, hatte er gemeinsam mit anderen Zauberern studiert, die ihm beibrachten, dass die Beherrschung seiner Physis von grundlegender Bedeutung für die verschiedensten Darbietungen war, angefangen von simplen Kartentricks bis hin zu großer Bühnenmagie einschließlich Verschwinden und Selbstbefreiung. Außerdem hatten diese Bühnenzauberer ihm das Meditieren beigebracht.
Molly , dachte er wieder.
Dann wich seine Angst um Molly der Angst um ihn selbst und der Erinnerung an seine furchterregenden Träume.
Doch er beruhigte sich wieder und atmete in bewusst langsamem Rhythmus ein und aus. Er würde kein Gespenst sein. Und er wollte kein Gefangener bleiben. Houdini war ein meisterhafter Selbstbefreier gewesen. Natürlich wusste Felix, dass er kein zweiter Houdini war, aber er hatte dessen Methoden studiert und eingeübt. Hätte er keinen Sauerstoff bekommen, wäre er gestorben, ehe er sich von den Fesseln befreien konnte, die
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