Joe Golem und die versunkene Stadt
gefrorenen Flusses entfernt. Eisschollen und Eisklumpen bewegen sich träge voran; der Winter hat die Strömung noch nicht ganz zum Stillstand gebracht.
Am Flussufer ringen zwei Gestalten. Ein Mädchen kurz vor der Reife zur Frau kämpft mit Nägeln und Fäusten und versucht sich aus dem Griff der Hexe zu befreien, die das Mädchen erst eine Stunde zuvor entführt hat. Die Hexe ist groß und langgliedrig, als hätte e iner der kahlen, skelettartigen Bäume das Eis abgeschüttelt und wäre zu mörderischem Leben erwacht. Ihre Finger sind dünn wie Messerklingen, ihr Gesicht ist blass und ausgezehrt.
Das Mädchen sieht ihn, reißt die Augen auf und ruft ihn zu Hilfe.
Die Hexe lacht. Es ist ein eigenartig kindliches Lachen, das von jeder Schneeflocke, jedem Windhauch widerzuhallen scheint. Sie fährt herum und starrt ihn an, packt das Mädchen beim Haar und um den Leib und grinst mit fauligen gelben Zähnen. Dann flieht sie in den gefrierenden Fluss. Ihre langen dünnen Beine stechen durch das Eis und zwischen die gezackten Schollen.
Er ist schneller, als sie glaubt. Das ist der Fehler, den die anderen immer begehen: Sie glauben, seine Größe mache ihn langsam und schwerfällig. Doch er ist alles andere als langsam. Mit einem halben Dutzend schneller Schritte hat er die Hexe erreicht. Sie stößt einen durchdringenden Schrei aus, der das Heulen des wütenden Sturmes übertönt, und versucht ihm auszuweichen, doch sie hat einen tödlichen Fehler begangen.
Eine riesige Hand schließt sich um ihren Hals. In der Weiße des Sturms sind seine Finger wie aus Stein gemeißelt, während er zudrückt, doch die Hexe gibt das Mädchen immer noch nicht frei. Während ihr Kopf über seinen massigen Fingern hin und her schlägt, beginnt sie am Körper des Mädchens zu reißen. Blut spritzt ihm auf Hose und Schuhe. Noch vor ein, zwei Sekunden hätte er das Mädchen vielleicht befreien können, ohne dass der Hexe etwas geschieht, aber jetzt hat er genug.
Mit der freien Hand packt er den Unterarm der Hexe und zerquetscht ihn, zermalmt den Knochen zu Splittern. Dann löst er den Griff der Hexe, packt das Mädchen am Rücken ihres groben Wollkleids, wendet sich ab und schleudert das Kind mit einer Hand auf den gefrorenen, schneebedeckten Boden.
D ie Hexe kreischt auf, krallt an seiner Hand, windet sich in seinem Griff wie ein tollwütiges, sterbendes Tier. Sie will ihre Beute zurück, und sie ist zu allem bereit, um das Mädchen wieder in die Finger zu bekommen.
Er zerrt sie zum Fluss. Das Eis kracht unter seinem Gewicht. Als er bis zu den Hüften im Wasser steht, ohne auf die scharfkantigen Schollen zu achten, die sich an seinem steinernen Leib reiben, wirft er die um sich schlagende Hexe in das eiskalte Wasser. Knochen zersplittern auf dem Eis. Er drückt sie unter Wasser, und der Fluss verschluckt sie mitsamt ihren Schreien, während er sie in eisernem Griff hält und ihre Knochen zu Pulver zermahlt.
Stille breitet ihre Schwingen über das Wasser und die kahlen Wälder hinter ihm aus. In der Ferne, im Süden, entlang der Flussbiegung, erkennt er das Licht der Laternen und Fackeln aus dem Dorf, und während er die Hexe ertränkt, denkt er an die Freudentränen, die die Mutter des Mädchens vergießen wird, wenn er es nach Hause bringt.
Dennoch hat er die Hexe weder wegen der Dankbarkeit noch aus Edelmut getötet. Er hat sie vernichtet, weil sie eine Hexe war, und sie töten ist seine Bestimmung – der Zweck, zu dem er erschaffen wurde.
Ihre Zauberei hat bei den Dorfbewohnern viele Narben hinterlassen und hat sie verändert. Sie und die anderen Hexen haben Kinder ermordet und ihnen die Lebenskraft geraubt, manchmal auch ihr Blut oder Fleisch. Sie haben Ernten verdorben und Säuglinge aus der Wiege gestohlen. Die Hexen sind Ungeheuer … sie sind Teufel … sie müssen aufgehalten werden.
Wäre er aus Fleisch und Blut, wäre sein Körper steif gefroren, nachdem er die Hexe so lange unter Wasser gedrückt hat. Doch die Kälte hat ihn nie gestört. Die Arme bis zu den Ellbogen im Wasser, zerbricht er ihre spindeldürren Gliedmaßen mit bloßen Händen. Am Ende schlägt er ihr den Schädel ein und wünscht sich, er hätte Steine, um sie zu beschweren. Stattdessen zieht er ihren eisigen Leichnam aus dem Wasser, stößt die Finger durch die Rippen und reißt ihr das schwarze, triefende Herz aus der Brust.
Er lässt den Leichnam im mahlenden Treibeis versinken, aber das Herz behält er. Er wird es unter einer Esche
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