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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Mignola
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schrammen.
    »Du redest anders als die Vierzehnjährigen, mit denen ich es bisher zu tun hatte«, sagte er.
    »Das bleibt nicht aus, wenn man bei einem alten Mann wohnt, der es gewöhnt ist, vor Publikum aufzutreten.«
    Joe nickte. »Da haben wir was gemeinsam.«
    »Ist wohl so«, erwiderte Molly und blickte ihn unter dem steifen Schirm der Regenkapuze hinweg an. »Was ist mit dir? Was ist deine Geschichte?«
    Joe dachte über die Frage nach, während er Gas wegnahm und am Steuerrad drehte, damit das Kajütboot am größtenteils überfluteten Vordach eines längst vergessenen Kaufhauses entlangglitt, einem der Orientierungspunkte, nach denen er Ausschau gehalten hatte. Viele Gebäude am Rand von Brooklyn Heights waren entweder eingestürzt oder so niedrig, dass sie vollständig unter Wasser lagen. Bei sehr tiefem Wasserstand ragten sie manchmal heraus, aber das Kaufhaus war auch bei Hochwasser zu sehen. Nur die Anzahl der Buchstaben, die man auf dem Vordach erkennen konnte, veränderte sich.
    Joe lenkte das Kajütboot tiefer in die gespenstischen Überreste von Brooklyn Heights.
    Die überfluteten Viertel von Lower Manhattan waren noch bewohnt, aber von den Heights war nicht genug übrig, um irgendeine Art von menschlicher Gesellschaft zu beherbergen. Hier lebten Plünderer und Kanalratten und eine Handvoll Eremiten, die mit niemandem etwas zu tun haben wollten. Wo mehrere Gebäude, die bewohnbare Geschosse oberhalb der Wasserlinie besaßen, nebeneinanderstanden, sah Joe wacklige Brücken zwischen den Häusern und Boote, die an den Dächern vertäut lagen.
    Molly schenkte den Ruinen ringsum nur wenig Aufmerksamkeit. Offenbar fühlte sie sich in Joes Gegenwart sicher, was ihn ein bisschen unruhig machte, wie jedes Mal, wenn jemand sich blind auf ihn verließ. Wer war er denn schon? Er war kein Simon Church, so viel stand fest. Er war nur ein Kerl mit riesigen Fäusten, der keine Skrupel kannte, sie einzusetzen.
    »Du findest deine Geschichte zu alltäglich, um sie mir zu erzählen«, sagte er, »und das Problem bei mir ist, dass ich gar keine Geschichte zu erzählen habe.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Molly und wischte sich Regentropfen aus den Augen. »Du bist Detektiv. Du arbeitest mit Simon Church zusammen. Ich hatte von ihm gehört, aber bis heute dachte ich, er wäre eine Figur aus einem Buch.«
    Joe lächelte, was sehr selten vorkam, deshalb war sein Lächeln ein wenig verzerrt, und ihm taten die Kiefer davon weh.
    »Was ist so komisch?«, fragte Molly.
    Joe spähte durch den Regen. Sie näherten sich der Stelle, wo er nach Osten abdrehen musste, damit sie nicht in Gefahr gerieten. Durch vorsichtiges Steuern umschiffte er einen eingestürzten Schornstein, der kaum über die Wasserfläche ragte. Irgendetwas schwamm an ihnen vorbei. Als er genauer hinsah, erkannte er einen Seehundkopf. Die Tiere zeigten sich immer öfter, denn die Wassertemperatur war manchmal niedrig genug für sie.
    »Joe?«, hakte Molly nach.
    Er erschauerte und klappte seinen Mantelkragen hoch. Seinen Hut hatte er gar nicht erst aufgesetzt   – der Regen hätte den Filz ruiniert   –, und nun lief ihm das Wasser in den Nacken und unter die Kleidung. Sein Mantel, sein Hemd und seine Hose waren durchnässt; er fühlte sich steif, und seine Glieder waren schwer. Doch wenn er ehrlich war, fühlte er sich fast immer so.
    »Das Komische ist, dass die Leute Church für ’ne Romanfigur halten, dabei komme ich mir selbst wie eine vor«, sagte er. »Über zwanzig Jahre ist es her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind, und ich hab noch immer so ziemlich jede Stunde dieser langen Zeit im Kopf. Ich kann mich kaum daran erinnern, was vorher war.«
    Das Boot schaukelte heftig auf kleinen Wellen, und sie mussten sich festhalten, damit sie nicht von Bord stürzten.
    »Ernsthaft?«, fragte Molly. »Hast du das Gedächtnis verloren?«
    Joe zuckte mit den Achseln und richtete den Bug des Kajütbootes zwischen zwei Telefonmasten, deren Spitzen noch aus dem Wasser ragten.
    »Verrückt, ich weiß«, sagte er. »Mittlerweile hab ich mich daran gewöhnt. Ich hab immer gedacht, mein Gedächtnis kommt wieder. Church hat in all den Jahren immer wieder versucht, mir zu helfen, mit wissenschaftlichen und okkulten Methoden. Aber egal, was wir tun, ich kann mich an nicht besonders viel aus meinem Leben erinnern, bevor ich in dem gleichen Zimmer aufgewacht bin wie du heute Mittag. Wie es aussah, hatten Church und ich am gleichen Fall gearbeitet   – ein

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