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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Mignola
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schließen und warm und trocken in ihrem Bett aufwachen.
    Sie sah Joe zu, wie er mit seinen großen Händen über die dicken Wurzeln strich und dann an der rilligen, narbigen Rinde knibbelte.
    »Was ist das für eine Sorte Baum?«, fragte sie und sah ihn sich näher an, spähte hinauf in die Krone und suchte nach irgendwelchen Knospen oder Beeren.
    »Einer, wie ich noch nie einen gesehen habe«, sagte Joe. »Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Aber in den Downtown-Kanälen kriegen wir ja nicht so viele Bäume zu Gesicht.«
    Molly ahmte Joe nach und fuhr mit den Händen über die Borke. Sie schaute gerade wieder zur Baumkrone hinauf, als das Gefühl, beobachtet zu werden, plötzlich stärker wurde. Erschrocken blickte sie sich um, während sie zugleich eine der Gabelungen im Baumstamm mit den Fingern betastete. Die Rinde fühlte sich narbig an. Stirnrunzelnd forschte Molly weiter. An der Gabelung hatte sich eine ovale Wunde in der Rinde gebildet; das fleischige Holz darin war weich und verrottet.Es fühlte sich eher wie das feuchte Gewebe wilder Pilze an. Verwitterte, rundliche Knöpfchen wuchsen aus dem modrigen Material.
    Molly riss die Hand zurück. Ihr Atem ging schneller.
    »Joe«, flüsterte sie.
    Doch er hatte ihre Reaktion schon bemerkt, kam um den Baum herum und stellte sich neben sie.
    »Was ist?«, fragte er.
    Molly zeigte auf die Stelle, die sich so scheußlich anfühlte.
    Kurz entschlossen stieß Joe seine starken Finger in den weichen, pilzigen Moder und begann, die breiige Masse klumpenweise herauszuklauben. Nach nur wenigen Sekunden zögerte er, und Molly wusste, dass er zu der gleichen Erkenntnis gelangt war wie sie.
    Die Knöpfchen, die aus der faulen Stelle ragten, waren die Spitzen menschlicher Finger.
    »Tritt zurück.« Joe riss noch mehr verrottetes Gewebe weg. Molly sah zu, erstarrt vor Abscheu, während Joe zurücktrat und gegen die Baumgabelung trat. Beim vierten Tritt krachte es laut, und die von der Fäulnis morsche Stelle gab nach. Einer der drei Auswüchse splitterte vom Hauptstamm ab und fiel auf den matschigen Boden. Molly sah nun, dass der Stamm innen völlig von der fremdartigen Pilzfäule zerfressen war.
    Aus dem verfaulten Stamm ragte eine Menschenhand. Sie hatte graue, schlaffe Haut und lange gelbe Nägel, und die Finger spreizten sich wie kurze, skelettartige Äste.
    »Ist das Felix?«, fragte Molly mit leiser, dünner Stimme.
    »Ich wüsste nicht, wie das gehen soll«, antwortete Joe.
    Molly entging nicht, dass er bewusst nicht mit Nein geantwortet hatte.
    Er machte sich wieder an dem weichen Pilzgewebe zu schaffen und riss Stücke gesunden Holzes rings um den vermoderten Kern herunter.Es knackte und splitterte. Molly half ihm und hängte sich mit ihrem Gewicht an einen der verbliebenen Nebenstämme. Rote Blätter zitterten über ihr und ließen ihr Wassertropfen auf den Kopf regnen. Der Baumstamm gab auf einer Seite nach; es sah aus wie eine Wunde, die sich in Fleisch öffnete. Ein Handgelenk und ein teilweise vertrockneter Arm wurden sichtbar.
    Joe zerrte an dem einen Nebenstamm, Molly an dem anderen, und einen Augenblick lang klaffte der Baumstamm so weit auf, dass Molly das Gesicht eines toten Mannes im Kern des morschen Baumes erkennen konnte. Sie sah den höckrigen Schädel, den Bart wie aus Kupferdraht und die Gruben, wo seine Augen hätten sein müssen, und sie wusste, dass es nicht Felix war.

    Molly ließ los und trat entsetzt einen Schritt zurück. Einen Augenblick lang hatte sie wieder den unerträglichen Druck gespürt, das nunmehr vertraute Gefühl, beobachtet zu werden. Ob es der Geist des verwesenden Mannes war, der sie aus leeren Augenhöhlen angeschaut hatte?
    »Andrew Golnik«, sagte Joe. »Das muss er sein.«
    Er begann, einen der beiden verbliebenen Nebenstämme mit wuchtigen Tritten vom Baum zu trennen. Das Holz krachte, und bald reichte der Riss im Stamm bis zu den Wurzeln. Irgendwie, erkannte Molly, war der tote Mann mit dem sprießenden Baum aus seinem Grab herausgewachsen. Er war Teil davon, sein verwesender Kern.
    »Na los«, sagte Joe. »Wenn wir Antworten wollen, hier finden wir welche.«
    Er holte mit dem Fuß zu einem weiteren Tritt aus, doch unvermittelt schüttelte sich der Baum, und Molly sah, dass die Äste knackend und windend nach Joe griffen. Im gleichen Augenblick schoss eine Wurzel aus der regennassen Erde hervor, peitschte auf Molly zu und schlang sich um eines ihrer Beine.
    Langsam schloss der Baumstamm sich wieder und versuchte, den

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