Joe Golem und die versunkene Stadt
brach sie ab. Endlich gelang es ihm, an seine Waffe zu kommen. Die riesige Pistole hatte ihm immer schwer in der Hand gelegen, doch jetzt fühlte sie sich federleicht an, wie eine Verlängerung seines Armes. Erschob den dicken Lauf in das aufgerissene Maul des Baumes und drückte der Mumie die Mündung gegen die Brust. Die Furche in der Baumgabelung begann sich um Joes Handgelenk zu schließen, und die Rinde wuchs augenblicklich seinen Arm hinauf.
Joe drückte ab.
Der Knall des ersten Schusses klang gedämpft und fern tief im Innern des Baumes, doch als Joe immer wieder feuerte, begann der Baum zu verrotten, und die Furche wurde größer. Knisternd verdorrte die Rinde. Jeder Schuss knallte lauter als der vorherige. Als der sterbende Baum schließlich zerbarst, sah Joe, was seine Kugeln mit dem Leichnam von Andrew Golnik angerichtet hatten. Die Mumie war in Stücke gerissen worden, seine Brust war ein Krater aus Fleisch, und die vergilbten Knochen waren so zersplittert wie die abgebrochenen Äste des verfluchten Baumes.
In der Brusthöhle des toten Okkultisten funkelte irgendetwas.
»Hör auf!«, brüllte Molly. »Bitte hör auf!«
Sie war aus dem Baum gerutscht, nachdem Joe ihn getötet hatte, lag weinend am Boden und presste sich die Hände auf die Ohren. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Joe fiel auf, dass die Rinde, die Mollys Hals, ihre Wangen und ihre Arme überwachsen hatte, verdorrt war und abblätterte. Doch diese Beobachtung lenkte ihn nur einen kurzen Moment von dem wahren Grund für Mollys Schreien und ihre Tränen ab. Es war nicht Angst, sondern Schmerz. Ihr Kopf hatte im Baum gesteckt, als Joe ihn mit Blei vollgepumpt hatte, und der Donner der Schüsse hatte ihr wehgetan.
Joe steckte die Waffe ins Halfter und kniete sich neben das Mädchen.
»Molly«, sagte er und versuchte, ihre Hände von den Ohren zu nehmen.
Sie riss sich von ihm los, gab dann aber nach. Joe war erleichtert, alser kein Blut auf ihren Händen oder an ihren Ohren sah. Er glaubte nicht, dass ihre Trommelfelle geplatzt waren.
»Du kommst schon wieder in Ordnung«, sagte er.
Molly wischte sich die Tränen ab und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht hören.«
Joe nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Kannst du mich überhaupt noch hören?«, brüllte er, und es gefiel ihm gar nicht, wie seine Stimme über den weiten Friedhof hallte.
Mollys Atem ging stoßweise, doch sie nickte und beruhigte sich ein wenig. »Ein bisschen. Aber nur ganz dumpf.«
»Das geht vorbei«, sagte Joe laut und versuchte zu lächeln.
Molly nickte wieder und schien getröstet zu sein. Sie umklammerte seine Hand, und Joe half ihr aufzustehen. Als sie sich den Handballen gegen die Stirn drückte, begriff er, dass sie teuflische Kopfschmerzen hatte. Aber Kopfschmerzen und vorübergehende Hörprobleme waren ein kleiner Preis dafür, nicht von dem Übel verschlungen zu werden, das in dem Baum gelebt hatte.
Joe spürte noch immer einen Hauch der finsteren Magie des Baumes, die ihn mit ihrer Boshaftigkeit besudelt zu haben schien wie mit einer scheußlichen öligen Schicht. Ihm war schlecht, und er sehnte sich nach einer Dusche. Selbst ein Bad im Fluss wäre ihm recht gewesen. Er warf einen Blick zum Himmel. Hoffentlich kam aus den schweren, tief hängenden Wolken noch einmal ein richtiger Guss statt des leichten Nieselns, das sie einnebelte.
Molly machte sich daran, die verdorrte Baumrinde von ihrem Gesicht, den Händen und den Armen zu schälen. Vor Abscheu verzog sie den Mund.
Im zunehmenden Dunkel des stürmischen Abends hörte Joe links von sich den Pfiff eines Vogels aus einer Baumgruppe in der Nähe mehrerer zerfallender Familiengrüfte. Als er den Blick wieder auf Molly richtete, zeigte sie einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Joe drehte sich um, um festzustellen, was sie so eigenartig berührte, und sah, dass sie die vertrockneten Überreste der Mumie des Okkultisten betrachtete, die so sehr Teil des verrotteten Baumes war, dass sich unmöglich sagen ließ, wo das eine endete und das andere begann.
Doch Mollys Blick galt gar nicht Golniks Leichnam.
Joe hatte sich so sehr um das Mädchen gesorgt, dass er das Funkeln in der Brust der Mumie völlig vergessen hatte. Am tiefsten Punkt der Brusthöhle befand sich etwas, das auf den ersten Blick wie ein seltsames Puzzle aussah. Röhrchen aus zart gefärbtem Glas – wenn es sich denn um Glas handelte – waren zu einem fremdartigen Knäuel verknotet. Joe fühlte sich bei dem Anblick an ein
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