Joe Golem und die versunkene Stadt
Tiere, die sie nicht kommen sehen. Dann würde ich ja Dinge träumen, die gar nichts mit mir zu tun haben.«
Molly grübelte darüber nach. Sie war froh, etwas zum Nachdenken zu haben, während der Wind mit einem unheimlichen Geräusch durch die Friedhofsbäume seufzte. Sie bogen nach links ab und stiegen einen gewundenen, holperigen Weg zu einem baumbestandenen Hügel hoch, wo hastig viele gesichtslose, quaderförmige Grüfte errichtet worden waren, als die Seuche mit voller Macht zugeschlagen hatte. Seither waren Generationen vergangen. Mollys Urgroßeltern waren noch nicht geboren, als die Seuche ausbrach. Trotzdem blieben diese Geschichtenund bildeten einen Teil des Geflechts der Kultur in der Versunkenen Stadt. Die meisten Menschen, die sich hätten erinnern können, waren längst tot, aber die Stadt besaß ihr eigenes Gedächtnis.
»Vielleicht hat es seinen Sinn«, sagte sie schließlich. »Wenn die meisten deiner Erinnerungen verschwunden sind, hast du im Kopf für andere Sachen Platz.«
Joe lachte leise und zog an seiner Zigarette. Die Spitze glühte im Halbdunkel orange auf.
»Vielleicht hast du recht. So hab ich es noch nie gesehen. Und das ist immer noch besser als Churchs andere Theorie, nach der ich ’ne Reinkarnation bin. Er glaubt, dass ich dieses Leben vielleicht wirklich gelebt und am Ufer eines Flusses in Kroatien Hexen gejagt hab, aber jetzt neugeboren bin.«
»Wäre das so schlecht?«, fragte Molly und las die Namen auf den Grabsteinen, an denen sie vorbeikamen – Kontis, Montuori, Charczenko, so viele andere. »Diese Menschen … sie sind einfach tot. Wenn Reinkarnation bedeutet, dass du eine zweite Chance bekommst …«
»Nein«, sagte Joe grimmig. Seine Miene wurde kalt. »Wenn du stirbst, solltest du Frieden finden, oder? Wenn ich schon mal gelebt hätte, dann hätte ich meinen Teil getan. Einmal um den Block reicht mir.«
Molly war stehen geblieben. Joes Worte hatten eine stille Traurigkeit in ihr wachgerufen, und sie fühlte sich ihm plötzlich eigentümlich nahe. Dass sie eine neue Freundschaft geschlossen hatte, lagschon so lange zurück, dass sie beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlte.
»Alles in Ordnung, Kleine?«, fragte Joe. »Tut mir leid. Ich weiß, dass du dir wegen Orlov Gedanken machst. Ich sollte besser nicht die ganze Zeit drüber reden.«
Molly atmete tief aus und schlang sich die Arme um die Schultern, als könnte sie sich auf diese Weise gegen Kälte und Nässe schützen. Sie hasste es, wie ihr Regenmantel dabei knisterte.
»Molly?«, fragte Joe. Sie war froh, dass er sie nicht wieder »Kleine« nannte.
»Wir sind da«, sagte sie und blickte auf den Marmorgrabstein vor ihnen. Die Buchstaben ORLOV waren tief eingemeißelt. Auf den meisten Gräbern wucherte Unkraut, doch Felix kam oft hierher und hielt den Stein so gut wie frei davon.
»Stimmt«, sagte Joe.
Das Grab Cynthia Orlovs brauchten sie nur als Startpunkt, damit Molly den Weg zu ihrem eigentlichen Ziel finden konnte. Joe nahm sich jedoch die Zeit, um niederzuknien und mit den Fingern über die Buchstaben im Stein zu fahren. Er blickte sich um, als könnte jemand sie beobachten.
»Was machst du?«, fragte Molly.
»Ich guck nur, ob es unberührt ist«, sagte Joe und stand wieder auf.
Molly schob die Hände in die Taschen ihres Regenmantels und schaute sich ebenfalls um. Sie entdeckte kein Anzeichen, dass noch jemand hier sein könnte. Dr. Cocteau – falls er der Entführer war – hätte Felix nicht hierher gebracht, und wenn doch, hätte er nicht an diesem Grab gewartet. Bei diesem Wetter besuchte wohl kaum jemand den Friedhof. Soviel Molly wusste, kamen sowieso kaum Hinterbliebene nach Brooklyn Heights, um für die Seelen der Toten zu beten. Die meisten Leute fürchteten, man könne sich an den Gräbern noch immermit der Seuche anstecken, als könnte die Krankheit wie Blumen aus den Leichen unter der Erde wuchern.
»Darf ich dich was fragen?«, sprach Molly Joe an.
Der grinste schief und zog an seiner Zigarette. »Könnte ich dich daran hindern, selbst wenn ich’s wollte?«
»Wahrscheinlich nicht.« Er brauchte ihr nicht zu sagen, dass sie viel redete, das wusste sie auch so.
»Dieses Pentagrammdings …«, begann sie.
»Lectors Pentajulum«, half er ihr aus.
»Genau«, sagte Molly und zeigte auf ihn. » Genau das Ding. Mr. Church sagte doch, dass jeder es haben will, aber ich weiß immer noch nicht, was es eigentlich tut, oder was es sein soll, oder was es
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