Joe Golem und die versunkene Stadt
sich vor Staunen. Zwei Motorboote lagen weiter draußen, aber nahe am Ufer sah Molly ein kleines Unterseeboot, dessen obere Hälfte aus dem Wasser ragte. Sie starrte auf die winzigen Bullaugen und die Nieten, die den plattierten Rumpf zusammenhielten.
Molly hatte schon Bilder von U-Booten gesehen, aber keines hatte ausgeschaut wie dieses. Die Nase war spitz wie bei einem Schwertfisch. Auf dem Rücken und an den Seiten hatte es Reihen gezackter Auswüchse, die offenbar Finnen und Flossen sein sollten. Das Boot stank nach Öl – ein Geruch, bei dem Molly an Mr. Church denken musste, der sie wiederum an Joe erinnerte, und sie begriff, dass sie sterben würde, wenn sie den Gas-Männern gestattete, sie in dieses seltsame U-Boot zu schaffen. Nicht heute Nacht; wenn man sie hätte umbringen wollen, läge sie jetzt schon tot neben Joe. Aber sie würde sterben, sobald Dr. Cocteau von ihr bekommen hatte, was er wollte.
Wieder versuchte sie zu fliehen. Ein Gas-Mann schlug ihr so fest ins Gesicht, dass sie nach hinten geschleudert wurde, sich überschlug und über den Boden rollte, bis sie mit ausgebreiteten Armen und Beinen halb an Land, halb im Fluss lag. Ein Ölfilm schwamm auf dem Wasser und strich am Ufer entlang.
Kräftige Hände rissen Molly wieder hoch. Dann marschierten die Gas-Männer mit ihr ins Wasser und trugen sie zum Unterseeboot. In ihrem Kopf klingelte es von dem Hieb, der sie getroffen hatte. Der Kampfgeist war aus ihr gewichen. Wenn sie überleben wollte, musstesie den richtigen Augenblick zur Gegenwehr oder zur Flucht abwarten – oder einen klugen Einfall haben, wie sie ihrem Schicksal doch noch entkommen konnte.
Die Gas-Männer schleppten sie unsanft auf die Oberseite des U-Boots und reichten sie weiter, als wäre sie Abfall. Ehe sie Molly nach innen zerrten, konnte sie noch einmal zu der ausgedehnten, hässlichen, überwucherten Friedhofsinsel blicken. Die letzten Gas-Männer kamen zum Wasserrand. Einer von ihnen hielt irgendetwas in der Hand, das in trüben, veränderlichen Farben leuchtete. Molly reckte den Kopf, um es besser sehen zu können.
Lectors Pentajulum. Natürlich. Wenn Mr. Church recht hatte, bekam Dr. Cocteau nun genau das, was er wollte. Allein der Gedanke, was er damit vorhatte, machte Molly Angst, doch sie war sicher, dass sie es schon bald erfahren würde.
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Kapitel 12
J oe blinzelte sich die Regentropfen aus den Augen. Er starrte hinauf zu den Wolken des frühen Abends, auf den Gewitterschleier, und empfand einen Stich des Bedauerns, dass er nie wieder die Sonne sehen würde. Kein Morgen mehr mit blauem Himmel. Als Taubheit sich in ihm ausbreitete, ließ er den Kopf zur Seite sinken und hustete das Blut aus, das sich in seiner Kehle gesammelt hatte. Er spürte es als Bläschen auf den Lippen und fragte sich – vielleicht intensiver, als er sich je etwas gefragt hatte –, wieso er noch nicht tot war. Gewiss stand sein Ende unmittelbar bevor.
Also wartete er. Bei jedem Atemzug spürte er, wie in seiner Brust etwas zerriss. Der Schmerz packte ihn mit spitzen Klauen; die Taubheit war nur ein äußerlicher Panzer, der ihn nicht vor der Verwüstung im Innern schützen konnte. Dennoch erlosch sein Lebensfunke nicht. In seinen Jahren mit Simon Church hatte er zahllose Dinge beobachtet, die eigentlich unmöglich sein sollten. Dazu gehörte nicht zuletzt Churchs mechanisch und magisch herbeigeführte Langlebigkeit.
Doch ihn, Joe, hatten mehr als ein Dutzend Kugeln getroffen und seine gewöhnlich-menschlichen Mechanismen zerstört – jene Teile, dieer am Laufen halten musste. Es gab Unmögliches, und dann gab es Unmögliches. Diese Verletzungen konnte er nicht überleben.
Aber noch lebte er.
Wieder blinzelte Joe das Regenwasser fort. Er hatte diesen Augenblick. Und darüber hinaus hatte er vermutlich noch einen. Und vielleicht noch einen. Er konnte nicht sagen, wie viele Augenblicke ihm vergönnt wären, doch ihm erschien es geradezu als Verbrechen, sie betäubt und blutend damit zu vergeuden, unter Schmerzen Regentropfen wegzublinzeln. Einer der Gas-Männer hatte ihm in die Tasche gegriffen und das Pentajulum weggenommen. Genau genommen war er davon aus der Bewusstlosigkeit geweckt worden. Die bizarren Killer hatten ihm Molly und das mächtigste aller mystischen Artefakte abgejagt und würden beides zu Dr. Cocteau bringen.
»Von wegen«, krächzte Joe und hustete einen weiteren Mundvoll Blut in den Schlamm.
Der Tod würde kommen, aber wenn der Schnitter
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