Joe Golem und die versunkene Stadt
knirschte, und krümmte sich vor Schmerz – dann endete die Agonie abrupt. Ein Husten entwich aus seinem Mund, zusammen mit einer schwarzen Rauchwolke. Dann ließ der Schmerz ganz nach, und er bekam wieder ganz normal Luft. Dampf strich ihm über die Lippen, als er ausatmete.
Nachdem die Gefahr vorüber war, ging er zitternd durch den Raum zu der Vitrine, auf der eine Kristallkaraffe mit Brandy aus dem neunzehnten Jahrhundert stand. Mit bebenden Händen schenkte er sich einen kleinen Schluck ein, dann verdoppelte er die Menge. Er hob das Glas an die Lippen, besann sich dann aber eines anderen. Er setzte das Glas so hart ab, dass es beinahe gesprungen wäre.
In seinem Innern hatte etwas den Dienst aufgegeben, das weder mechanischer noch arkaner Natur war: Ein Teil seines Kampfgeistes war zu Staub zerfallen.
Joe hatte ihn verlassen. Sein enger Freund und vertrauenswürdiger Gefährte war gestorben. Mr. Church hatte es am Zerreißen des Bandes gemerkt, das zwischen ihnen bestand, jener magischen Übereinstimmung, die sich schon am Tag ihrer ersten Begegnung ergeben hatte. Im Augenblick von Joes Tod war etwas in Simon Churchs Innerem zerbrochen, im wahrsten Sinne des Wortes, und auch wenn der Mechanismusjetzt wieder arbeitete, wusste Church doch, dass er nicht mehr ewig funktionieren würde. Chemie, Medizin, Arkanistik und Mechanik hatten seinen Körper in Gang gehalten, doch es war seine Seele, die allem die Energie verliehen hatte, seine Entschlossenheit, seine schiere Willenskraft. Joes Tod hatte ein Stück davon zerstört. Sein Wille ließ nach. Sein Herz – nicht der Mechanismus, den er erfunden hatte, sondern das, was ihn am Leben hielt – war gebrochen.
Die Entropie hatte eingesetzt. Nun würde bald der Zerfall einsetzen. Und vielleicht war das sogar am besten.
»Ach, mein Freund, mein liebster Freund«, wisperte er.
Erst da bemerkte er, dass er weinte. Ihm stockte der Atem, und mit einer zornigen Bewegung wischte er die Tränen fort. Sie hinterließen einen öligen Schmierstreifen auf seinem Handrücken. Wieder hob Mr. Church den Cognacschwenker und nahm einen tiefen Schluck. Der Weinbrand rann ihm wie feurige Seide die Kehle hinunter. Mehrere Sekunden lang stand er da; dann nahm er noch einen Schluck, und mit einem dritten Schluck leerte er das Glas.
Gestärkt nahm er Karaffe und Glas und ging zum Schreibtisch zurück. Das Leder knarrte, als er sich in den Sessel setzte und den Kopf in den Nacken legte. Als hätten sie auf ihn gewartet, kehrten die Tränen zurück. Sein Schluchzen erfüllte das Studierzimmer und hallte von den Rücken Tausender Bücher wider.
»Es tut mir leid«, flüsterte er und schloss die Augen.
Hawthorne war sein erster Ermittlungspartner gewesen, doch es schien nur passend, dass Joe der letzte sein sollte. Immerhin hätte er ohne Joe schon vor langer Zeit dem Gewicht nachgegeben, das die Jahre seiner Seele aufgebürdet hatten. In jener finsteren Zeit war er von einer schrecklichen Melancholie befallen gewesen. Erst Joes Eintritt in sein Leben – und Joes Freundschaft – hatte in Church wieder den Wunsch geweckt, sich weiterhin mit der Welt zu befassen.
W ie ist Joe gestorben? , fragte sich der große Detektiv. Es erforderte nur wenig logisches Folgern, um zu erkennen, dass die Reise nach Brooklyn zu Joes Ableben geführt hatte, und es brauchte keinen allzu großen logischen Sprung, um zu begreifen, dass Joes Tod durch eine Begegnung mit Dr. Cocteau und seinen mörderischen Geschöpfen verursacht worden war. Allerdings gab es noch andere mögliche Erklärungen. An dem geheimnisvollen Grab, das offenbar Felix Orlovs wiederkehrende Krankheit heilte, konnte eine unbekannte Gefahr gelauert haben. Oder der Kontakt mit Lectors Pentajulum – falls Joe und Molly es tatsächlich gefunden hatten – konnte sie beide vernichtet haben, auch wenn das wenige, was die Welt über das Pentajulum wusste, in keiner Weise darauf hindeutete.
Nein , dachte er. Dr. Cocteau steckt dahinter. Joe zu töten kann nicht einfach gewesen sein.
Mr. Church öffnete die Augen. Einen Moment starrte er auf seinen Schreibtisch; dann beugte er sich vor und schenkte sich noch einen Fingerbreit Brandy ein. Hastig trank er ihn, stellte Glas und Karaffe beiseite und griff nach seiner Pfeife. Er klopfte sie aus und reinigte sie rasch. Seine Spinnenfinger bewegten sich wie aus eigenem Antrieb, so oft hatten sie diese Bewegungen schon vollführt. Schließlich stopfte und entzündete er
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