Joel 1 - Der Hund der unterwegs zu einem Stern war
kaum traut, den Schnabel aufzumachen. »Ich muß mal«, sagt er, um Zeit zu gewinnen. Er geht einige Schritte zur Seite und wendet Ture den Rücken zu.
»Du solltest oben von der Brücke pissen«, sagt Ture, und Joel kann förmlich hören, wie er grinst. Joel knöpft den Hosenschlitz auf und versucht sich einige Tropfen abzupressen, während er nachdenkt. Er will keine Kletterpflanzen abschneiden. Er will auch nicht auf einen Brückenbogen klettern.
Warum will Ture ihn zwingen, sich zwischen etwas zu entscheiden, das schlecht ist, und etwas anderem, das genauso schlecht ist? Er hat den Geheimbund doch nicht verraten. Es gibt keine Regel, die besagt, daß man nicht verschlafen darf.
Ture hat so viele Wörter, denkt er. Er kann reden, bis ich nicht mehr aus noch ein weiß. Plötzlich wird er wütend. Er will keine Ameisen durch offene Fenster kippen und Johannisbeersträucher mit Firnis beschmieren. Er will nach dem Hund suchen. Er will nicht das tun, was er nicht will.
Trotzdem reißt er die Heckenschere an sich. »Ich tu's«, sagt er. »Aber nicht, weil ich den Geheimbund verraten hab.«
Sie gehen über die Brücke und biegen in den Weg zur Nasenlosen ein. Vor der Gartenpforte bleiben sie stehen. »Ich warte hier«, sagt Ture.
»Du kannst warten, wo du willst«, sagt Joel. Vorsichtig öffnet er die Pforte. Das Haus ist dunkel. Dennoch hat er ein Gefühl, als ob es ihn anschaute. Wie ein Raubtier, das sich bald auf ihn stürzen wird. Vorsichtig geht er näher. Als er sich nach Ture umdreht, ist der verschwunden. Er hat sich im Schatten versteckt. Dort ist die Wand, und da sind die Kletterpflanzen. Im Winter sind es nur nackte Zweige, die sich wie ein riesiges Spinnengewebe über die Wand spannen. Aber im Sommer ist die ganze Wand mit grünen Blättern bedeckt. Er lauscht wieder. Langsam schiebt er die Schere zwischen Wand und Zweige und schneidet. Einmal. Noch einmal.
Da wird eine Tür geöffnet, und Licht geht an. Um ihn herum wird es ganz hell, und sein Herz zuckt zusammen.
Die nasenlose Gertrud steht in der Tür und sieht ihn an.
Das schwarze Loch, wo ihre Nase sein müßte, klafft offen.
Er sieht, daß sie barfuß ist.
»Was machst du da?« fragt sie.
Er bleibt wie gelähmt stehen.
Ihre Stimme klingt kein bißchen böse, denkt er. Auch nicht ängstlich. Nur traurig.
»Komm her«, sagt sie.
Joel wirft einen Blick zur Gartenpforte. Aber Ture ist nirgends zu sehen. Er weiß, daß er weglaufen müßte. Sie würde ihn bestimmt nicht einholen können. Trotzdem bleibt er stehen. »Komm her«, sagt sie noch einmal.
Wenn sie wenigstens wütend wäre, denkt Joel. Dann hätte ich weglaufen können. Aber wie kann man flüchten, wenn jemand nur traurig ist?
Er geht auf die Tür zu.
»Komm mit in die Küche. Wir müssen miteinander reden«, sagt sie. »Hier draußen ist es so kalt. Mich friert.« Joel weiß, daß er nicht mit hineingehen dürfte. Dann sitzt er in der Falle. Und trotzdem geht er hinein.
In ihrer Küche ist es warm. Er steht herum und weiß nicht, wo er die große Heckenschere lassen soll.
Sie geht hinaus. Als sie zurückkommt, hat sie sich ein Taschentuch in das Loch unter den Augen gesteckt. Von Joels Skistiefeln fließt der schmutzige Schnee. Er versucht sich vor die Lache zu stellen. Die Nasenlose hat einen schwarzen Mantel an. Darunter, das kann er sehen, trägt sie nur noch ein Nachthemd. »Wer bist du?« fragt sie.
Joel gibt keine Antwort. Ich kann einen Namen erfinden, denkt er. Oder ich sage, daß ich Otto heiße. »Ich werde dich nicht schlagen«, sagt sie plötzlich. »Obwohl ich sehr stark bin. Ich will nur wissen, warum du all das machst. Eines Morgens war die ganze Küche voller Ameisen. Am nächsten Morgen hat jemand meine Johannisbeersträucher umgebracht. Sie werden nie wieder Beeren tragen. Und jetzt schneidest du mir meine Blumen kaputt.«
Angst einjagen, denkt Joel. So hat Ture es ausgedrückt. Traurigkeit einjagen, hätte er statt dessen sagen müssen. Und wo ist Ture jetzt? Er hätte mir zu Hilfe kommen müssen. Wenn jemand aus dem Geheimbund gefangen wird, muß man natürlich versuchen, ihn zu befreien. Dafür braucht man doch keine Regel aufzustellen. Joel weiß nicht, was er sagen soll. Er starrt auf den Fußboden und versucht, die Heckenschere hinter dem Rücken zu verstecken. »Warum?« fragt sie wieder. »Ich will jetzt nach Hause«, sagt Joel.
Das ist das einzige, was er sagen kann, das einzige, was wahr ist.
Plötzlich geht sie hinaus. Von einem
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