Joel 1 - Der Hund der unterwegs zu einem Stern war
Samuel zusammenzuckt, als er den Preis hört, aber er sagt nichts. Er holt nur seine Brieftasche hervor und bezahlt. Stolz fährt Joel mit dem Fahrrad nach Hause.
Lange ist es her, seit er in jener Nacht mit dem Fahrrad in einen Schneehaufen gefallen ist und die Hand vom alten Maurer ihn wieder hochgezogen hat. Und als die Abende heller werden, verblassen auch alle Erinnerungen an den Winter. Manchmal, im Traum, kehrt Joel auf den Brückenbogen zurück. Aber wenn er aufwacht und schon schwaches Dämmerlicht durch die Gardine sickert, liegt er nicht auf der Brücke, sondern in seinem Bett. Einige Male trifft er Ture.
Sie bleiben stehen und begrüßen einander. Aber dann gibt es nicht mehr viel zu sagen.
Einmal fragt Ture, ob Joel ihn nicht besuchen will. Joel sagt, er kommt, aber es wird nichts draus.
Jetzt spielen sie wieder oben bei der Ruine der alten Ziegelfabrik. Dort teilen sie sich in Freunde und Feinde auf und jagen einander durch die Hohlräume der Ruine und durch die Landschaft der verrosteten Maschinen. Später, denkt Joel. Später geh ich Ture besuchen. Er haut ja gar nicht ab. Er bleibt. Im Herbst kommt er in die Schule. Dann vielleicht. Aber nicht jetzt… In einem Monat. In zwei. In drei Jahren.
Aber in drei Jahren ziehen sie weg, Papa Samuel und Joel.
Weg von dem Haus am Fluß, der sie nie zum Meer führen wird. Und da draußen gibt es vielleicht irgendwo Mama Jenny.
Papa Samuel erzählt.
»Vielleicht ist sie zu jung gewesen«, sagt er. »So möchte ich sie in Erinnerung behalten. Vielleicht war sie selbst noch ein Kind, als sie dich bekam. Und jetzt, wo sie kein Kind mehr ist, bereut sie vielleicht, daß sie uns verlassen hat. Vielleicht traut sie sich nicht zurückzukommen und ihrem verlassenen Sohn ins Gesicht zu schauen. Es hängt von dir ab«, sagt Papa Samuel. »Wenn du sie gern treffen möchtest, hast du natürlich ein Recht darauf. Und wenn es ist, wie ich glaube, dann kannst du ihr helfen, ihr schlechtes Gewissen loszuwerden.« »Und du?« fragt Joel.
»Mit mir ist das anders«, sagt Papa Samuel. »Das ist alles so lange her. Und jetzt hab ich Sara.«
Sara mit dem roten Hut!
Jetzt ist es leichter, wo Papa Samuel nicht einfach mehr verschwindet. Und besonders leicht, wenn Joel Zeitungen in der Bierstube verkauft. Dann sagt sie den alten Männern, die dort sitzen, sie sollen kaufen, und sie tun das dann. Bald hat Joel fünfzig Kronen zusammengespart. Soviel Geld hat er noch nie besessen.
Sara ist dick, sie hat zu große Brüste, und sie hat Ausschlag. Aber sie kann gut kochen, und sie merkt, wenn er nicht will, daß sie ihm über die Wange streichelt. Er kann nicht begreifen, wieso Papa Samuel jedesmal so gute Laune kriegt, wenn Sara in der Nähe ist. Aber Erwachsene sind schwer zu verstehen, das hat er inzwischen begriffen. Nur die Erwachsenen, die noch genauso klug wie Kinder sind und besondere Sachen machen, die kann man verstehen.
Wie Simon Urväder oder die nasenlose Gertrud. Simon ist alt, und Gertrud ist erwachsen.
Die kann man verstehen, und mit denen kann man zusammen sein.
An einem Abend, als Samuel bei Sara ist, kommt Gertrud Joel besuchen, und er zeigt ihr »Celestine«. Sie sitzen zusammen da und betrachten sie, und Joel erzählt, welche Fahrwasser von allen Weltmeeren die gefährlichsten sind…
Plötzlich ist das Schuljahr zu Ende. Es kommt so schnell, daß es ihm eigentlich erst klar wird, als er aufwacht und denkt, daß er erst im Herbst wieder in die Schule muß. Da springt er aus dem Bett, zieht sich schnell an und fährt mit dem Fliegenden Pferd los. Der Sommer ist so groß… Aber der Hund, der Hund, der unterwegs zu einem Stern ist, den sieht er nie wieder.
Vielleicht ist er schon so weit gelaufen, daß er seinen Stern erreicht hat.
Ein kindischer Gedanke, denkt Joel. Kein Gedanke, den jemand, der bald zwölf wird, denken soll. Aber trotzdem. Er sucht sich einen Stern aus, der klar hinter dem Großen Bären leuchtet. Dort ist sein Hund.
Bald kann er nicht mehr kindisch sein, das weiß er. Dann wird der Hund verschwinden.
Aber noch geht es. Noch kann er vom Fahrrad absteigen und zum Himmel hinaufschauen und sich vorstellen, daß der Hund sein Ziel erreicht hat.
Der Gedanke gefällt ihm. Das ist ein Gedanke, den er nie mit jemandem teilen wird. Ein Gedanke, der zu ihm gehört und zu niemand anders.
Ich bin ich, denkt Joel. Und für eine Weile habe ich noch einen Hund, der auf einem Stern ist.
Dann fährt er weiter.
Er hat in diesem Sommer so viel vor.
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