Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
bestimmt. »Aber er singt laut.«
Sie nickte nachdenklich. »Aber er singt doch trotzdem ganz gut?«
»Eher laut.«
Joel wollte nicht weiter darauf eingehen. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Wenn er erst mal Gitarre spielen gelernt und ein paar Lieder eingeübt hatte, würde er es ihr vorführen.
Sie fragte, ob er Saft haben wollte. Das wollte er. Sie gingen zusammen in die große Küche. Das Sonderbare an dem Haus war, dass es zwei Küchen gab, obwohl es kein großes Haus war. Aber Gertrud wollte das so.
Die eine Küche benutzte sie, wenn sie nur ein wenig hungrig war, die große, wenn sie ein Festessen vorbereiten wollte und Besuch hatte.
Joel sah ihr zu, wie sie Saft eingoss. Er dachte, dass Gertrud hübsch sein könnte. Wenn sie nur eine Nase gehabt hätte. Und sich ordentliche Kleider anziehen würde. Wie andere Leute. Nicht diese komischen Röcke, die sie sich selbst nähte.
Plötzlich war es, als ob Joel nur diese Nase sah, die es nicht gab. Und ihre merkwürdigen Kleider.
Woher das Gefühl kam, wusste er nicht. Aber plötzlich fand er sie eklig.
Sie reichte ihm das Saftglas. Er nahm es entgegen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Nichts.«
»Ich seh doch, dass du über etwas nachdenkst.« »Hör auf damit.«
Jetzt überfiel es ihn noch stärker. Das Gefühl, dass Gertrud eklig war. Eine Person außerdem, die ihn geradewegs durchschauen konnte. Seine Gedanken lesen konnte. Wie nannte man solche Leute? Eine Hexe war sie. Aber ohne die lange Nase. Gertrud war schlimmer. Sie hatte überhaupt keine Nase.
Dann ging alles sehr schnell. Er warf das Saftglas an die Wand. Es zersplitterte und Saft spritzte über Gertruds Kleider. Etwas landete außerdem auf dem Taschentuch, das sie sich ins Nasenloch gesteckt hatte. Aber das sah Joel nicht mehr. Da hatte er sich schon umgedreht, die Küche verlassen, seine Jacke an sich gerissen und seine Stiefel mit auf den Hof genommen. Er hatte Herzklopfen und wusste nicht, was er getan hatte. Er zerrte an den Schnürsenkeln und fluchte. Ständig drehte er sich um. Aber Gertrud kam nicht. Als er die Stiefel endlich an hatte, schwitzte er vor Anstrengung. Er lief davon, so schnell er konnte. Erst als er die Hälfte der Eisenbahnbrücke hinter sich hatte, blieb er stehen und holte Luft. Aus seinem Mund stieg eine Atemwolke. Unter dem Schweiß begann er zu frieren. Er zitterte. Aber das meiste kam von innen. Was hatte er eigentlich getan? Warum hatte er das Saftglas gegen die Wand geworfen? Als Freund hatte er Gertrud besucht. Er wollte, dass sie ihm auf einen Teil all der Fragen, die er mit sich herumschleppte, antwortete. Aber als sie ihm eine Frage stellte, hatte er ein Glas gegen die Wand geworfen. Jetzt bereute er es. Er war immer noch außer Atem. Und fror sehr. Der Schweiß stach wie Stecknadeln unter dem Hemd auf seiner Haut. Er starrte ins schwarze Wasser. Noch gab es kein Eis. Aber das Wasser begann zu erstarren.
Ich springe, dachte er. Das war zu viel. Ich kann Gertrud nie wieder treffen. Warum hab ich das getan?
Aber er sprang nicht. Ihm fiel ein, dass Gertrud einmal versucht hatte Selbstmord zu begehen. Genau in diesem Fluss. Und sie hatte wirklich einen Grund, da sie doch keine Nase mehr hatte.
Er dachte, dass er eigentlich auf der Stelle zu ihr zurückgehen müsste. Sie hatte sicher auch nicht verstanden, was passiert war. Aber vielleicht konnte sie es ihm erklären? Ihm erklären, was er getan hatte.
Doch er kehrte nicht um. Dafür war er viel zu feige. Er rief es geradewegs in den Himmel.
»Weil ich zu feige bin. Joel Gustafsson ist ein richtiger Feigling.«
Dann ging er nach Hause. Ihn fror, dass er zitterte. Und er klapperte mit den Zähnen.
Als er in die Wohnung kam, saß Samuel am Radio. Eine weinerliche Stimme hielt einen Vortrag. Samuel war eingeschlafen. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Er schlief mit offenem Mund. Joel tappte an ihm vorbei. In diesem Augenblick wollte er nicht, dass Samuel erwachte. Am liebsten hätte er es gehabt, die ganze Welt würde schlafen. Er schloss die Tür hinter sich, zog sich aus und kroch in sein Bett. Langsam taute er auf. Er machte die Augen fest zu und dachte, dass alles nur Einbildung gewesen war. Er hatte gar kein Glas bei Gertrud an die Wand geworfen. Sie war nicht traurig. Aber was geschehen war, ließ sich nicht wegdenken. Für einen kurzen Augenblick konnte er an etwas anderes denken. Dann war es wieder da. Die Küche. Gertruds Fragen. Ein Fluch. Das Glas an der Wand. Er merkte, dass er Magenschmerzen
Weitere Kostenlose Bücher