Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
Er dachte an Gertrud, die nach Hause ging durch die Nacht. Jetzt hatte sie die Eisenbahnbrücke erreicht. Aber plötzlich war es, als ob jemand aus der entgegengesetzten Richtung kam. Jemand, der mitten auf der Brücke an Gertrud vorbeiging.
Jemand, den Gertrud nicht bemerkte. Zuerst konnte er nicht richtig erkennen, wer es war. Dann wusste er es. Ehnströms neue Verkäuferin. Und sie trug durchsichtige Schleier und darunter war sie nackt. Obwohl es mitten in der Nacht und Winter und kalt war.
Joel zuckte zusammen. Er hatte sich fast in den Schlaf geträumt. Er sprang aus dem Bett und ging zum Fenster. Aber unter der Straßenlaterne stand niemand. Und schon gar keine nackte Frau.
Joel kehrte zum Bett zurück. Die Gedanken an Gertrud verdrängte er. Morgen wollte er herausfinden, wer die neue Verkäuferin war. Sie musste einen Namen haben. Sie musste irgendwo wohnen.
Irgendwo mussten ihre durchsichtigen Schleier an einem Bügel hängen.
Einem Bügel, der vielleicht aus Gold war.
Am nächsten Morgen war Joel natürlich spät dran. Samuel musste ihn rütteln und ihn fast auf den Fußboden stellen, damit er wach wurde.
»Du kommst zu spät, wenn du dich nicht beeilst.« »Ich schaff das schon.«
Er wusch sich in der Toilette und setzte sich mit einem Glas Milch und ein paar Butterbroten an den Küchentisch. Eigentlich hatte er keinen Hunger. Aber wenn er nicht aß, wäre er gleich nach dem Morgenchoral hungrig.
»Es riecht komisch in der Küche«, sagte Samuel plötzlich. »Es riecht nach Hering«, sagte Joel.
»Es riecht nach Parfüm«, sagte Samuel. »Man könnte fast meinen, heute Nacht wäre heimlich eine Frau zu Besuch gewesen.«
Dann lächelte er. Joel spürte, dass er rot wurde. Hatte Samuel doch gemerkt, dass Gertrud hier gewesen war? Aber er hatte doch die ganze Zeit geschnarcht?
Nervös wartete Joel auf die Fortsetzung. Samuel konnte manchmal furchtbar wütend werden. Häufig, wenn man es am allerwenigsten ahnte. Aber jetzt lächelte er nur. Und sagte nichts mehr. Machte sich nur fertig, nickte und ging. Joel blieb am Tisch sitzen. Gertrud roch immer nach Parfüm. Aber Joel war so daran gewöhnt, dass es ihm nicht mehr auffiel.
Was hatte Samuel eigentlich gemeint? Hatte er gemerkt, was passiert war? Joel grübelte darüber nach. Er blieb so lange sitzen, dass er natürlich zu spät zur Schule kam. Frau Nederström sah ihn missbilligend an, als er die Klasse betrat. Otto grinste wie gewöhnlich. Joel war sauer und wünschte ihm von Herzen, dass vor
ihm
niemals eine nackte Frau in durchsichtigen Schleiern tanzen würde.
»Wenn das so weitergeht, muss ich mit deinem Vater reden«, sagte Frau Nederström. »Du kommst allzu oft zu spät.«
Joel sagte nichts, still ging er zu seinem Platz und setzte sich.
»Warum kommst du zu spät?«
»Ich hab verschlafen.«
»Hast du keinen Wecker?«
»Der ist kaputt.«
»Aber dein Vater kann dich doch wecken?«
»Er hat auch verschlafen.«
Die Klasse kicherte. Joel hatte das Gefühl, als hätte er sich ganz schön blamiert. Wenn sie noch eine einzige Frage stellte, würde er explodieren. Dann würde er nicht nur ein Glas an die Wand werfen. Dann würde er Frau Nederström die ganze Welt geradewegs ins Gesicht werfen. Aber sie sagte nichts mehr. Der Unterricht wurde fortgesetzt.
Sie hatten Mathe. Joel verrechnete sich. Weil er die ganze Zeit seine Expedition plante, die am selben Abend starten sollte. Wenn Ehnströms Laden schloss, würde er dort draußen im Schatten sein und auf sie warten.
Hin und wieder warf er dem Windhund einen verstohlenen Blick zu. Sie rechnete immer richtig. Er versuchte, wenigstens jede dritte Aufgabe richtig zu lösen, indem er bei ihr abschrieb.
Mittwochabends pflegte Samuel bei Sara zu essen. Dann blieb er über Nacht bei ihr. Sara war Samuels Freundin. Sie arbeitete in Luddes Bierstube, die hinterm Gemeindehaus lag. Dort herrschte immer ein rauchiger Nebel und es roch nach nasser Wolle und feuchten Gummistiefeln. Anfangs, als Samuel Sara gerade kennen gelernt hatte, mochte Joel sie nicht. Er hatte befürchtet, sie könnte ihm Samuel wegnehmen. Erst hatte Mama Jenny sich ihm weggenommen und dann glaubte er, Sara würde ihm Samuel wegnehmen.
Aber jetzt ging es besser. Nicht zuletzt, weil Samuel nur noch selten so viel trank. Wenn Joel vor etwas Angst hatte, dann davor, dass Samuel betrunken nach Hause kam. Die Unruhe lag ständig auf der Lauer. Immer war er auf das Schlimmste gefasst. Aber es geschah immer seltener. Und das
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