JörgIsring-UnterMörd
wünschte er sich, endlich Richard Krauss und Oda
eigenhändig den Schädel einschlagen zu können, doch an dieser Front herrschte
unbegreifliche Ruhe. Die beiden waren spurlos verschwunden und nicht einmal in
der Nähe von Edgar Krauss' Anwesen aufgetaucht. Irgendwann würden sie sich aus
ihrer Deckung wagen, da war sich Göring sicher, aber irgendwann würde er auch
sein Interesse an ihnen verlieren. Im Moment sah es für ihn so aus, als würden
sie darauf spekulieren. Er musste also durchhalten. Es war immer dasselbe: Wenn
keiner mehr mit ihm rechnete, sprang er plötzlich auf die Bühne wie das Mädchen
aus der Torte. Göring, das
Stehaufmännchen. Hitler hatte ihn zum zweiten Mann des Reiches und zu
seinem Stellvertreter ernannt, als neunmalkluge Generäle wie von Manstein oder
Rommel keinen Pfifferling mehr auf ihn gegeben hätten. Jetzt mussten sie sich
in Acht nehmen. Jeder musste sich in Acht nehmen. Zwar durfte er seinen Plan,
sich die Unterstützung der Engländer zu sichern, wohl als gescheitert
betrachten. Dafür aber stand Hitler zu ihm. Der Führer wusste, dass nur Göring
das Format dazu besaß, sein Nachfolger zu werden.
Gerade als er sich in die Rolle des ersten Mannes im deutschen Staat
hineinzufühlen bemühte, kündigte Oberstleutnant Conrad Dahlerus an. Der Schwede
war zehn Minuten zu früh dran, ein untrügliches Zeichen, dass ihm etwas auf der
Seele brannte. Nach einer kurzen Begrüßung wies Göring ihm einen Stuhl an
seinem Tisch an. Dahlerus wirkte übernächtigt, unter seinen Augen lagen
schwarze Schatten. Da haben wir was gemeinsam, dachte Göring, wenigstens etwas.
Der Schwede kam
gleich zur Sache. »Botschaftsrat Forbes hat mich heute früh auf den aktuellen
Stand gebracht. In diesen Minuten legt Henderson Ribbentrop ein Schreiben der
britischen Regierung vor. Es besagt, dass die Deutschen binnen zwei Stunden
die Kampfhandlungen einstellen und sich auf ihr Territorium zurückziehen
müssen. Andernfalls erklärt England Deutschland den Krieg.«
Göring nippte an
seinem Kaffee. So weit erzählte Dahlerus ihm nichts Neues. Alles andere als ein
Ultimatum der Briten hätte ihn überrascht. Dass den Deutschen aber nur zwei
Stunden Zeit gelassen wurde, war schon bemerkenswert. Chamberlain schien es
diesmal ernst zu meinen.
Vorsichtshalber wollte der Feldmarschall sich aber vergewissern. »Das hört
sich in der Tat bedenklich an. Glauben Sie, da ist nicht mehr dran zu rütteln?«
Dahlerus hob die Hände. »Woher soll ich das wissen? Nach dem, was Forbes
gesagt hat, kann ich es mir allerdings kaum vorstellen.«
Der Feldmarschall
schüttelte scheinbar bestürzt den Kopf. »Die Engländer sitzen auf einem derart
hohen Ross, es ist wirklich zum Kotzen. Seit wann muss sich eine siegreiche
Armee zurückziehen, bevor es überhaupt zu Verhandlungen gekommen ist? Kennen
Sie einen vergleichbaren Fall in der Weltgeschichte? Ich nicht. Sie sehen, dass
es hier vor allem darum geht, alte Muster zu beleben. Denken Sie an
Versailles! Auch damals zwang man die Deutschen, die Waffen niederzulegen, und
diktierte ihnen anschließend die Bedingungen. Die Engländer fürchten um ihre
Vormachtstellung in der Welt, das ist der eigentliche Grund für dieses
Ultimatum. Dabei haben Sie und ich wirklich alles daran gesetzt, zu einer
friedlichen Lösung zu gelangen.« Göring sah auf die Uhr. »Es ist jetzt 9.15
Uhr. Ich möchte kurz den Außenminister anrufen und mir das Ultimatum
bestätigen lassen. Würden Sie mich dafür bitte kurz alleine lassen?«
Dahlerus nickte. »Selbstverständlich. Aber wenn ich noch eines anfügen
darf: Versuchen Sie zu verhindern, dass Ribbentrop oder Hitler die Note
beantworten. Sie dagegen haben mir immer versichert, zu einer Verständigung mit
den Engländern kommen zu wollen. Nehmen Sie die Sache also selbst in die Hand,
oder wirken Sie auf die beiden ein. Andernfalls kommt es meiner Meinung nach
zur Katastrophe.«
Danach stand Dahlerus auf und verließ den Raum. Göring wollte nicht, dass
der Schwede mitbekam, dass Hitlers Stellvertreter sich seine Informationen
selbst zusammenklauben musste. Er ging an seinen Schreibtisch und rief im
Außenministerium an. Wenig später hatte er Joachim von Ribbentrop in der
Leitung. Göring verkniff sich eine dumme Bemerkung und ließ sich nur den
genauen Inhalt der britischen Note mitteilen. Er stimmte mit dem überein, was
Dahlerus erzählt hatte. Göring legte auf, ohne sich von Ribbentrop
verabschiedet oder die Frage einer Antwort für die
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