JörgIsring-UnterMörd
dutzendfach, lebte nach völlig anderen
Moralvorstellungen. Wie konnte er sich in einen Menschen hineinversetzen, der
Recht und Gesetz achtete? Dahlerus sah das Gesicht der jungen Frau vor sich,
der er in London die Nachricht übergeben hatte. Sie war besorgt gewesen, hatte
sich nach Krauss' Befinden erkundigt. Jetzt war sie tot. Und Dahlerus hatte die
Mörder auf ihre Spur gebracht. Er weinte krampfartig.
Krauss gab nicht
auf. »Gut, Sie sind gescheitert. Wir sind beide gescheitert. Aber das ist doch
nichts Verwerfliches. Wir haben es wenigstens versucht. Wer kann das schon von
sich behaupten? Sie haben nie aufgegeben, trotz aller Widerstände, trotz aller
Lügen, die man Ihnen aufgetischt hat. Das ist am Ende alles, was zählt: dass
Sie es versucht haben. Dass wir es versucht haben.«
»Was wissen Sie schon von mir? Sie kennen mich nicht, genauso wenig wie
ich Sie kenne. Ich weiß nur, dass Sie ein Mörder sind. Sie verkörpern alles
das, was ich verachte, gegen das ich kämpfe. Und Sie sitzen hier und reden von
Schuld. Sie wissen doch gar nicht, was das bedeutet.«
Krauss taxierte ihn mit seinen leblosen Augen. »Es ist schwer, so zu sein
wie Sie. Für mich ist es unmöglich. Das heißt aber nicht, dass ich nicht weiß,
was richtig ist und was falsch. Wenn Sie so wollen, habe ich mich dazu
entschieden, das Richtige im Falschen zu tun.«
Dahlerus begriff, dass er zu weit gegangen war. Er hatte sich von seiner
Enttäuschung in die Irre leiten lassen. Krauss war ein intelligenter,
differenziert denkender Mensch, den die Verhältnisse zu dem gemacht hatten,
was er heute war. Eine verlorene Seele. Ein Verdammter.
»Es tut mir leid.«
Krauss deutete ein Lächeln an. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie
nicht.«
Dahlerus beruhigte sich etwas. Da war ohnehin nicht mehr viel Kraft in ihm.
Schon merkwürdig, was dieser im Vergleich zu ihm vollkommen konträre Mensch für
ein Einfühlungsvermögen hatte. Aber auch Krauss besaß eine moralische
Leitlinie, nur war sie weitaus kompromissloser. Was er sagte, klang ehrlicher
als das, was Dahlerus sich von Göring oder Hitler hatte anhören müssen. Zuletzt
war der Schwede noch an einen ehrlichen Mörder geraten.
Als Dahlerus sprach, klang ihm die eigene Stimme heiser und hohl. »Ich
werde diese Frau nie vergessen, Christa hieß sie, glaube ich. Ihr Antlitz wird
mich an die Menschen erinnern, die in diesem Krieg ihr Leben lassen werden.
Menschen, die ich nicht kenne. Christa gibt ihnen ein Gesicht.«
»Wenn Sie es so sehen wollen, dann ist das Ihre Sache.«
Dahlerus
reagierte erst nicht. Dann sprach er weiter. »Danke, dass Sie noch einmal
vorbeigekommen sind. Hätte ich ohne Ihre Informationen vom Tod dieser Menschen
erfahren, weiß ich nicht, wie ich damit hätte leben sollen. Wahrscheinlich
haben Sie ein großes Risiko auf sich genommen, um mich zu besuchen.«
Krauss zuckte mit
den Schultern. »Ich bin ein Profi, das wissen Sie doch.«
»Geht es dem Jungen denn gut? Wo ist er?«
»Es ist besser, wenn Sie so wenig wie möglich über ihn wissen. Soweit ich
es weiß, geht es ihm gut. Ich hoffe, dass ihn niemand mehr findet, niemals.«
Dahlerus nickte kaum merklich, seine erste Bewegung seit ein paar Minuten.
»Gut so. Was haben Sie jetzt vor?«
»Ich muss noch eine letzte Sache ins Reine bringen. Eine Familienangelegenheit.«
»Bevor was?«
»Bevor nichts.«
Dahlerus gab es auf, diesen Mann zu ergründen. Er hatte ihm von seinem Nazi-Bruder
erzählt, und was dieser getan hatte. Was Krauss sagte, hörte sich so an, als
sollte hier etwas zu Ende gebracht werden. Dahlerus wollte dies nicht genauer
wissen. Es war so, wie es war. Er musste lernen, sich mit den Dingen
abzufinden. Einen Schlussstrich ziehen. Vielleicht war Krauss deshalb gekommen.
Um ihm zu zeigen, wie man die Dinge zu Ende brachte. Man musste lernen, etwas
abzuschließen, bevor man wieder neu anfangen konnte.
Dahlerus stand
auf und streckte Krauss die Hand hin. »Alles Gute für Sie, Herr Krauss. Danke
für Ihren Besuch und Ihre Worte. Ich hoffe, dass Sie finden, was Sie suchen.«
Auch Krauss hatte
sich erhoben. Er ergriff die Hand des Schweden und drückte sie fest. »Wenn die
Welt nur aus Menschen wie Ihnen bestünde, wäre sie lebenswerter. Ich bin stolz,
Sie getroffen zu haben. Und wenn ich mir noch etwas wünschen darf: Geben Sie
niemals auf. Kämpfen Sie weiter für Ihre Sache. Damit es wenigstens einer tut.«
Dahlerus nickte. »Ich tue, was ich kann.«
»Wenn ich weg bin, warten Sie
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