JörgIsring-UnterMörd
noch einen Moment hier unten. Es ist besser,
man sieht uns nicht zusammen.«
Krauss drückte Dahlerus' Hand, drehte sich um und verschwand wortlos durch
die Tür. Der Schwede war alleine. Er hockte sich auf die Kiste. Wäre er jünger
gewesen, in Krauss' Alter, hätte er mehr zuzusetzen gehabt. So aber fühlte er
sich krank und schwach wie ein zittriger Greis. Er musste neues Leben in seine
müden Knochen bringen. Sein Blick fiel auf die Regale. Teure Tropfen lagerten
hier, edle Schätze aus Frankreich, Italien und Spanien. Er las die Etiketten,
die ihm am nächsten waren. Ein Chateau Lamothe De Bergeron, Jahrgang 1936. Warum
eigentlich nicht? Dahlerus stand auf, suchte nach einem Korkenzieher, fand
tatsächlich einen. Er nahm den Bordeaux, wog ihn kennerhaft in der Hand und
setzte den Offner an. Der Korken machte ein sanftes Plopp, als der Schwede ihn
aus der Flasche zog. Er war nur einmal in seinem Leben wirklich berauscht
gewesen, als junger Mann, kurz nach dem Krieg. Birger Dahlerus nahm einen
kräftigen Schluck aus der Flasche. Heute würde das zweite Mal sein.
40.
Berlin
4. September Wannsee, früher Morgen
Krauss schätzte die Entfernung bis zur Badeinsel auf rund achthundert
Meter. Natürlich konnte er leicht daneben liegen. Aber nicht viel. Plusminus
hundert Meter, spekulierte er. Innerhalb der Toleranz. Eine Strecke, die er
früher mühelos geschwommen wäre und sich auch heute noch zutraute. Allerdings
ohne Schussverletzung. Es war unmöglich zu kalkulieren, wie sich die Wunde auf
seine Kräfte auswirkte. So fühlte er sich gut, konnte sich annähernd normal
bewegen. Oda hatte perfekte Arbeit geleistet. Wenn sie keine Probleme bekommen
hatte, war sie mit dem Jungen vielleicht schon außer Landes. Aber was lief in
diesen Tagen schon problemlos?
Er stand am Ufer des Wannsees, durch Sträucher und Bäume vor Blicken gut
geschützt. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die Villa seines Bruders,
schmiegte sich in ein grünes, leicht hügeliges Grundstück. Edgar hatte sich
nicht lumpen lassen. Das Gebäude wirkte herrschaftlich, mit einem Steg in den
See und einem Bootshaus. Krauss observierte das Gelände seit dem Vorabend mit
dem Fernglas. Oda hatte recht gehabt. Überall waren Wachen postiert, die das
Kommen und Gehen kontrollierten. Selbst am Ufer des Sees patrouillierten zwei
Männer.
Offenbar traute Edgar ihm viel zu, dachte Krauss. Am Ende aber doch zu
wenig.
Der Morgen
dämmerte, graues Licht gab dem See ein düsteres Gepräge. Die Wasserfläche lag
so glatt wie ein Spiegel vor Krauss. Er konzentrierte sich auf sein Vorhaben,
versuchte, Gedanken über das, was alles passieren konnte, zu verdrängen. Hätte
ihn ein Außenstehender, ein frühmorgendlicher Spaziergänger vielleicht, aus
der Ferne gesehen, so hätte er sich vielleicht gefragt, was dieser schlanke
Mann dort tat, warum er einfach nur kerzengerade dastand und hinausstarrte auf
den stillen See. War es ein Verzweifelter, der seinem Leben ein Ende bereiten
wollte, oder nur ein Sinnsucher im Zwiegespräch mit der Natur? Aber es kam
niemand vorbei, der hätte Anstoß nehmen können. Krauss war vollkommen allein.
Nach ein paar Minuten entkleidete er sich bis auf die Unterhose. Obwohl es
ein kühler Morgen war, fröstelte er nicht. Die 38er hatte er in einen
wasserdichten Sack gestopft, an dem eine Schnur befestigt war, die er sich wie
ein Stirnband um den Kopf wand. Er würde brustschwimmen, um so wenig Wellen und
Geräusch wie möglich zu erzeugen, und den Beutel mit sich ziehen wie ein
kleines Rettungsboot.
Langsam ging er ins Wasser. Es war wärmer als die Luft, aufgeheizt vom
warmen Sommer. Seine Wunde prickelte leicht, als sie in Kontakt mit der Nässe
kam. Er ging einige Meter durch den schilfbewachsenen Uferbereich, konnte noch
stehen. Dann verlor er den Boden unter den Füßen und schwamm los. Schon der
erste Beinschlag versetzte ihm einen Stich in seiner verletzten Seite. Krauss
ignorierte den Schmerz, bemühte sich, in einen Rhythmus zu kommen. Um die
Wachen nicht auf sich aufmerksam zu machen, hielt er den Kopf knapp über der
Wasseroberfläche. Später wollte er sich im Blickschatten der Badeinsel halten.
Er schwamm in ruhigen Zügen, genoss das seidige Seewasser.
Die ersten zweihundert Meter verliefen problemlos. Krauss hatte seinen
Rhythmus gefunden, atmete ruhig und gleichmäßig. Dann begannen die Schmerzen.
Sie strahlten von dort aus, wo die Kugel seine Leiste durchschlagen hatte.
Krauss spürte,
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