Joes Diary - Tagebucheintraege des Serienkillers
einer komischen Metallklammer, die wie eine Spinne aussah, offen gehalten. Ich musste mit ansehen, wie die Instrumente auf mein Auge zukamen und den Splitter herausquetschten. Ich spürte keine Schmerzen – nicht körperlich jedenfalls, geistig schon. Der Anblick der Pinzette, die sich in mein Auge bohrte, reichte, um mich zum Schreien zu bringen.
Jetzt habe ich wieder eine Augenklappe. Ich darf sie in den nächsten Tagen abnehmen, aber der Geist ist endgültig verschwunden. Meine Mum hat mich gestern besucht. Sie will mit Walt zusammenziehen. Finanziell gesehen wäre das die richtige Entscheidung. Mir ist nicht wohl dabei.
Ich vermisse Schrody.
6 Liebes Tagebuch …
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Liebes Tagebuch …
jetzt sitze ich seit einem Jahr im Gefängnis. Kommenden Montag beginnt der Prozess. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so nervös. Irgendwie ist mir schleierhaft, wie ich so lange durchgehalten habe. Wahrscheinlich, weil ich in diesem Zellentrakt bin. Da kann mir niemand gefährlich werden. Wäre ich einen Trakt weiter –
na, das wäre eine ganz andere Geschichte. Es grenzt an ein Wunder, dass ich mich nicht mit einem Bettlaken erhängt habe. Ich habe überlebt, weil es so vieles gibt, für das es sich zu leben lohnt.
Schroder war nun schon eine ganze Weile nicht mehr da. Er wurde vor einem Monat gefeuert. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht hat er Bleistifte aus dem Büro mitgehen lassen oder Prostituierte erstochen. Mit meinem Anwalt werde ich auch nicht warm. Er hat so viel Persönlichkeit wie eine tote Katze und will mich ständig davon überzeugen, einen Deal mit der Anklage einzugehen. Er glaubt, dass ein Geständnis mir ein oder zwei Jahre ersparen könnten – doch ein Schuldspruch bedeutet immer noch siebzehn bis achtzehn Jahre. Warum zum Henker sollte ich darauf eingehen?
Die Wärter habe ich richtig eingeschätzt. Es sind Arschlöcher durch und durch. Sie schlagen uns, boxen uns manchmal in den Bauch oder ins Gesicht. Und beschweren kann man sich hier ja nirgendwo. Zwei sind noch gemeiner als der Rest – große Muskelmänner. Aber selbst wenn sie nicht so groß wären, könnte ich nicht viel gegen sie ausrichten. Sie drohen mir damit, mich in der Wildnis auszusetzen – damit meinen sie, mich zu den anderen Häftlingen zu stecken.
Der Gerichtstermin nächste Woche macht mir Angst, aber ich bin auch unheimlich aufgeregt. Sobald die Geschworenen erfahren, dass ich mich nicht an meine Verbrechen erinnern kann, sobald sie kapieren, dass ich geistig nicht zurechnungsfähig bin, werden sie mich freilassen. Ein Jahr Knast war gar nicht so schlimm – wenn man bedenkt, wie übel es hätte ausgehen können. Es wird seltsam sein, wieder nach Hause zu kommen. Außerdem habe ich erfahren, dass mein Zuhause nicht mehr mein Zuhause ist. Meine Wohnung wurde an jemand anderen vermietet. Ich fürchte, ich muss bei meiner Mutter einziehen. Dabei würde ich lieber bei Melissa wohnen. Da muss ich aber vorsichtig sein, nicht dass ich die Polizei zu ihr führe. Bei meiner Mutter zu wohnen bedeutet, unter ständiger Beobachtung zu stehen – ganz wie im Knast. Wahrscheinlich kriege ich dann wieder Selbstmordgedanken.
Mein Bart sieht ziemlich dämlich aus. Eigentlich war er ganz okay, aber dann haben mich die Wärter festgehalten und die linke Seite abrasiert, und jetzt darf ich mir die rechte nicht rasieren und muss mit einem halben Bart rumlaufen. Morgen früh habe ich einen Termin bei einem Psychiater. Er heißt Benson Barlow und arbeitet ab und zu mit der Polizei zusammen. Das ist meine Chance – ich werde ihn davon überzeugen, dass ich ein netter Kerl bin, der zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Er wird seinerseits die Polizisten von meiner Unschuld überzeugen und die wiederum die Anwälte und dann bin ich frei. Zugegebenermaßen verstehe ich noch nicht so ganz, wie unser Rechtssystem funktioniert, aber ich weiß zumindest, dass es unnötig kompliziert und vertrackt ist. Deshalb bin ich ja auch seit einem Jahr hier. Deshalb werden unschuldige Männer ins Gefängnis geworfen. Meine größte Angst ist, dass ich nach der Verhandlung nicht mehr Joe, das Opfer, sondern Joe, der Täter, bin.
Paul Cleave über »Opferzeit«
Als ich 1999 Der siebte Tod schrieb, hatte ich ein anderes Ende im Sinn – Joe sollte mit seinen Taten ungeschoren da vonkommen. Er sollte sich in Melissa verlieben und den Drang zu töten verlieren. Der letzte Satz im Buch lautete so ungefähr: »Aber wer weiß, vielleicht trennen wir uns irgendwann
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