Joes Diary - Tagebucheintraege des Serienkillers
dass er sich eine Zukunft mit mir vorstellt – eine Zukunft, in der Peitschen und Isolierband und ein verlassener Kellerraum des Krankenhauses eine gewisse Rolle spielen. Später wird er mir den Verband abnehmen und mir zeigen, wie die Operation verlaufen ist. Wenn er Mist gebaut hat, werde ich ihn eines Tages zu Hause besuchen und ein bisschen an ihm herumoperieren, nur so als Revanche. Morgen früh werde ich dann der Polizei ausgeliefert. Anscheinend soll ich bis zum Prozessbeginn ins Gefängnis wandern. Sie werden mich rund um die Uhr beobachten, damit ich mich nicht selbst umbringe. Aber alle sagen mir so viele Sachen, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was ich noch glauben soll – aber bestimmt nicht das, was sie mir da erzählen. Prozesstermine und Gefängnisaufenthalte und Verhöre gehören nämlich nicht zu meinen Zukunftsplänen. Unmöglich.
Ich hasse Krankenhäuser, und diese Erfahrung eben hat mich nicht gerade vom Gegenteil überzeugt. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn die Schwestern hübscher wären, sind sie aber nicht. Die Schwestern hier sind keine schmutzige Fantasie – sie würden es niemals in die Träume anderer schaffen, und Typen wie ich würden sie niemals zu Hause besuchen. Sie haben so ernste Gesichter wie einsame Bibliothekarinnen, tragen hässliche Häubchen, haben Bartstoppeln, und ihre Körper riechen nach Katzenpisse.
Vor zwei Tagen erschien die Polizei vor meinem Haus und hat mich mitgenommen. Sie nennen mich den Christchurch Carver, obwohl ich ständig beteuere, dass sie den Falschen haben, aber mir hört ja keiner zu. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich alles aufklärt und mich wieder alle für den Freundlichen Joe halten, den etwas beschränkten Joe mit dem breiten Lächeln, eine der vielen einfachen Putzkräfte dieser Welt. Im Moment liege ich im Krankenhaus, mein Gesicht ist von meinem Selbstmordversuch etwas lädiert, und nichts davon trifft auf mich zu – ich bin nur Joe, ein Opfer, dem ein Augenlid fehlt und dem das Etikett »Serienkiller« aufgedrückt wurde. Manchmal sind die Leute echt gemein.
Meine Hände sind mit Handschellen an das Bett gefesselt. Genau wie meine Füße. Ständig sind zwei bewaffnete Polizisten in meinem Zimmer. Manchmal machen sie mir eine Hand los, damit ich in eine große Plastikflasche pinkeln oder das Kreuzworträtsel in der Zeitung lösen oder ein Geständnis schreiben kann – obwohl ich gar nicht weiß, was ich überhaupt gestehen soll. Detective Inspector Schroder scheint fest davon überzeugt, dass ich einen Haufen Leute ermordet habe, aber woher will er das wissen? Kann er gar nicht. Er vermutet es nur, aber bald wird er begreifen, dass ich zu nett für einen Mörder bin, und dann werden sie mich freilassen, und das ganze Zeug über Verhandlungen und Gefängniszellen und so weiter war nur leeres Gerede. Wenn ich nur ans Gefängnis denke, würde ich mich am liebsten umbringen. Wenn ich mich nicht aus dieser Sache raus reden kann, werde ich mir ein Bettlaken um den Hals binden und mich erhängen. Morgen wissen wir mehr. Heute wird mir der Arzt die Verbände abnehmen. Mal sehen, was mich da erwartet.
2 Liebes Tagebuch …
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Liebes Tagebuch …
in meinem Zellentrakt ist ein Geist. Das klingt so verrückt, wie ich vorgebe zu sein, aber deshalb verschwindet der Geist trotzdem nicht. Er ist immer da, gerade so in meinem Augenwinkel sichtbar.
Die Nacht war grauenhaft. Als würde man den traurigsten Tag deines Lebens endlos in die Länge ziehen. In dieser Zelle hatte ich weder Laken noch Decken, noch nicht mal eine Zahnbürste. Ständig war eine Videokamera auf mich gerichtet, sodass ich ununterbrochen unter Beobachtung stand. Nicht mal auf der Toilette hatte ich meine Ruhe. Als ich diese Zelle betrat, war ich aufgeregt und verwirrt. Wie hatte es so weit kommen können? Als ich die Zelle wieder verließ, war ich noch aufgeregter und verwirrter und hätte mir am liebsten die Pulsadern durchgebissen. Ich hatte mehrere Gespräche mit einem Psychiater, einem langweiligen alten Herrn, der gar nicht richtig bei der Sache war. Er ist wohl nur Psychiater geworden, weil es bei ihm zum Zahnarzt nicht gereicht hat. Zu Anfang jeder Sitzung stellte er folgende Frage: »Joe, wie geht es dir?«, und ich antwortete: »Ich bin traurig, weil ich hier bin. Ich bin verwirrt, weil die Leute schlimme Dinge über mich sagen.«
»Du hast ja auch schlimme Dinge getan«, sagte er dann immer. Oder so etwas Ähnliches. »Erinnerst du dich
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