Joes Diary - Tagebucheintraege des Serienkillers
nicht?«
»Nein«, sagte ich, weil das mit der fehlenden Erinnerung eine gute Idee von ihm war. Von diesem Augenblick an beschloss ich, mich an keines meiner Verbrechen mehr zu erinnern. Das ist meine große Chance. Meine Erinnerungslücken sind meine beste Verteidigung vor Gericht.
»Ich bin nicht hier, um dir zu sagen, was du getan hast und was nicht«, sagte er. »Ich will, dass es dir gut geht. Wir wollen nicht, dass du dich umbringst.«
»Wirklich? Die Leute sehen mich an, als hätten sie nichts dagegen, wenn ich’s noch mal versuche.«
»Wenn dem wirklich so ist, wieso passen wir dann so gut auf dich auf?«
Da hatte er recht, und das ärgerte mich. Daher schenkte ich ihm das breite, langsame Joe-Grinsen und sagte ihm, dass es mir gut ging und dass die Polizei schon bald rausfinden würde, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte, und dass ich bald wieder Hausmeister sein würde, weil ich gerne »hausmeisterte«.
»Rede dir einfach das ein, was dir hier beim Überleben hilft«, sagte er.
»Ich muss mir nur die Wahrheit einreden«, sagte ich. »Die Wahrheit wird mich befreien.«
Heute Morgen habe ich zum ersten Mal mein Gesicht gesehen. Den Verband über der Wunde zu entfernen war nicht einfach, weil Blut und Eiter darauf getrocknet waren und alles verklebt hatten, doch der Gefängnisarzt hat einfach fest angezogen, woraufhin ich ihm am liebsten ein Messer genauso fest zwischen die Rippen gerammt hätte. Eine rote Narbe verläuft über meine Wange bis zu meinem Auge, hässliche schwarze Nähte halten das Fleisch zusammen, und mein Augenlid sieht aus wie eine Auster, auf der jemand herumgekaut und sie dann wieder ausgespuckt hat. Die Schwellungen und Blutergüsse werden irgendwann verschwinden, aber die Narbe bleibt. Zum Glück stehen die Frauen auf Narben. Genau in dem Moment, als ich in den Spiegel blickte, hab ich zum ersten Mal den Geist gesehen. Nicht im Spiegel selbst, sondern eher seitlich zu meiner Linken. Erst dachte ich, es wäre ein weiterer Wärter, aber als ich mich umdrehte, war er verschwunden.
Jetzt habe ich eine eigene Zelle. Ich hasse sie. Der Geist ist mit mir hier drin. Ich kam zu dem Schluss, dass es hier im Gefängnis nicht wirklich spukt, sondern dass das an den Medikamenten liegt. Hoffentlich bin ich einfach verrückt geworden. Das würde helfen. Im Irrenhaus ist es bestimmt angenehmer als hier im Gefängnis.
Besonders, weil es in diesem Gefängnis spukt.
Morgen wird mich die Polizei verhören, und ich kriege auch einen Anwalt. In ein paar Tagen muss ich dann zum ersten Mal vor Gericht. Ich werde auf nicht schuldig plädieren.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich noch länger im Gefängnis sitzen muss.
3 Liebes Tagebuch …
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Liebes Tagebuch …
ich werde wirklich verrückt. Dieser Geist – dieser blöde Geist will mich einfach nicht in Ruhe lassen. Erst dachte ich, es wären die Medikamente, aber die nehme ich ja gar nicht mehr und sehe ihn trotzdem. Ob es der Geist einer der Frauen ist, die ich ermordet habe? Wenn ja, weiß ich nicht so recht, was ich tun soll. Sogar heute Morgen, als ich auf der Anklagebank saß und mein Anwalt ein Plädoyer gehalten hat, stand der Geist zu meiner Linken. Ein Schatten, der mir folgt, mich heimsucht – was will er nur von mir?
Die Anklagepunkte wurden verlesen. Mein Anwalt for derte, mich auf Kaution freizulassen, aber der andere Anwalt, irgend so ein Arschloch, dessen Namen ich nicht aussprechen kann, behauptete, dass eine Kaution ein Fehler wäre. Der Richter stimmte ihm zu, bevor mein Anwalt Widerspruch einlegen konnte. Das ist traurig, denn wenn ich die Gelegenheit bekäme, könnte ich der Welt erklären, dass ich nicht der Mann bin, für den mich alle halten. Ich könnte ihnen sagen, dass ich mich nicht an die Dinge erinnern kann, die sie mir vorwerfen, und deshalb auch nicht verantwortlich für sie bin.
Vor zehn Tagen ist Schroder bei mir aufgetaucht und hat mich verhaftet. Zehn quälend lange Tage. Wie halten das die Leute nur aus, die für fünf, zehn oder gar zwanzig Jahre eingebuchtet werden? Es ist ein Wunder, dass sie die Toten nicht lastwagenweise aus den Gefängnissen karren; dass sich die Leute, denen dasselbe bevorsteht wie mir, nicht alle umbringen.
Mein Anwalt hat gesagt, dass er mich morgen wieder besuchen kommt, damit wir unsere Optionen durchsprechen können. Es gefällt mir, dass er »unsere« Optionen sagt, als ob »wir« gemeinsam ins Gefängnis wandern würden, wo »wir« dann von den anderen Gefangenen
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