John Sincalir - 0969 - Mandragoros Geschöpf (1 of 3)
die Scheibe an der Fahrerseite nach unten gedreht, um den heimatlichen Geruch wahrzunehmen.
Nichts hatte sich verändert. Noch immer roch es feucht. Nach altem Wasser, nach Gras und nach irgendwelchen wilden Blüten, besonders wenn es Frühling war, so wie jetzt.
An der rechten Seite wuchs nur hohes Sumpfgras. Weiter entfernt waren Bäume, deren Wurzelwerk im Schlammwasser stand.
O ja, da kannte sich Marion aus. Plötzlich verflog ihre gute Laune. Ich habe es gewußt, dachte sie.
Ich habe es gewußt, aber ich konnte nichts dagegen unternehmen.
Automatisch glitten ihre Gedanken weit zurück bis in die Kindheit. Trotz aller Warnungen war sie allein in den Sumpf gegangen. Sie hatte eigentlich mit dem kleinen Boot fahren wollen, das an einem Steg lag. Dann war sie abgerutscht, ins Wasser gefallen und trotz größter Kraftanstrengungen abgetrieben worden.
Es gab keine Rettung mehr. Niemand war in der Nähe – bis auf IHN!
Der Mann mit dem bösen Blick hatte sie aus der tödlichen Falle hervorgeholt.
Obwohl bereits siebzehn Jahre vergangen waren, würde sie dieses Erlebnis nie vergessen können.
Der Job und die Fahrerei quer durch die Welt hatten sie angestrengt und an andere Dinge denken lassen, doch der Mann mit dem bösen Blick war immer wieder wie ein gewaltiger Schatten erschienen, um sie zu warnen, nur nicht zu vergessen.
In ihren Träumen hatte er seine Präsenz gezeigt. Das war für Marion auch ein Grund mehr gewesen, nicht so schnell wieder nach Hause zu gehen, um die Umgebung zu sehen, wo alles geschehen war.
Sie hatte sich gesperrt. Sie hatte sich nicht überwinden können, doch das war nun vorbei.
Wirklich vorbei?
Marion konnte es nicht mehr glauben. Warum bekomme ich eine trockene Kehle? Warum klopft mein Herz stärker als gewöhnlich? Warum ist das alles so? Es ist vorbei. Dieser Unbekannte lebte sicherlich nicht mehr, und wenn, dann hielt er sich nicht mehr in der Gegend auf. Sie machte sich nur selbst verrückt.
»Eigentlich bin ich trotzdem blöde«, murmelte sie. »Ich hätte diese Abkürzung gar nicht zu nehmen brauchen. Es wäre besser gewesen, den normalen Weg zu fahren …«
Dieser hier war zwar näher, weil die Eltern schon außerhalb wohnten, aber auch einsamer. Selbst tagsüber fuhr kaum jemand hier, erst recht kein Radfahrer, denn der wurde auf dieser Fahrbahn durchgeschüttelt wie in einem Shaker.
Die Scheinwerfer des BMW gaben ein kaltes Licht ab. In der Dämmerung überfiel es regelrecht die am Wegrand stehenden Gewächse und schälte sie aus der Umgebung hervor wie eine Bühnenlandschaft.
Die Angst war nicht da. Nur das Unbehagen blieb, denn die Stelle, wo es damals passiert war, kam näher. Im letzten Licht des Tages konnte Marion sie noch sogar gut erkennen. Sie hatte sogar den Eindruck, als hätte sie sich vermehrt.
Gleich muß die Kurve kommen, dachte sie.
Links herum. Vorsichtiger fahren. Sie kannte noch alles und richtete sich auch danach.
Das handliche Lenkrad nach links drehen. Die Reifen packten. Der Wagen glitt in die Kurve hinein.
Scheinwerferlicht leuchtete sie aus, erfaßte auch die Gewächse an den Rändern und erhellte die Mitte des Wegs besonders stark. Genau dort stand die dunkle Gestalt, wie jemand, der auf Marion Kline gewartet hatte.
Marion trat auf die Bremse. Viele Gedanken jagten ihr durch den Kopf, und sie kam sich vor wie geteilt. Auf der einen Seite spürte sie, wie der Wagen auf dem unebenen Boden leicht schlingerte, was aber nicht tragisch war, auf der anderen dachte sie immer nur an das gleiche.
Er ist es! Er ist es! Der Mann mit dem bösen Blick! Mein Lebensretter. Er hat auf mich gewartet.
Marion hatte ihn noch nicht von vorn gesehen. Er stand seitlich zu ihr. Das Licht machte aus ihm eine böse Figur, die aus einer fremden Geschichte in diese Welt entsprungen zu sein schien. Zudem erfaßte ihn das Licht voll. Es malte auch den Hintergrund aus wie eine bleiche Dekoration.
Der Wagen stand, und der Mann drehte sich.
Auch das geschah nicht normal. Er tat es sehr genußvoll. Langsam, wie jemand, der einem Zuschauer etwas bieten will. In diesem Fall war es die junge Frau, die das Entsetzen spürte, ebenso wie das Wissen, daß einiges nicht mehr so werden würde wie sonst. Das Schicksal hatte sie eingeholt.
Er schaute sie an. Er blickte in das Licht, und es störte ihn nicht. Seine Augen, seine verfluchten Augen waren heller als die Strahlen der Scheinwerfer.
Jahre lagen zwischen diesen beiden Begegnungen. Marion Kline war älter geworden,
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