Johnson, Denis
klar. «Egal», sagte ich. «Das Ganze wird dir noch leid tun.»
FREI GEGEN KAUTION
Ich sah Jack Hotel in einem olivgrünen dreiteiligen Anzug, das blonde Haar zurückgekämmt, das Gesicht glänzend und leidend. Im Vine spendierten ihm Leute, die ihn kannten, Leute, die mal kurz mit ihm zu tun gehabt hatten, Leute, die schon gar nicht mehr wußten, ob sie ihn nun kannten oder nicht, einen Drink nach dem andern, so schnell er nur trinken konnte. Es war eine traurige, überdrehte Veranstaltung. Man hatte ihn wegen bewaffnetem Raubüberfall angeklagt In der Mittagspause war er vom Gericht herübergekommen. Er hatte seinem Anwalt in die Augen geschaut und erkannt, daß es ein kurzer Prozeß werden würde; dann überschlug er mit Hilfe einer Justizarithmetik, die nur der Geist eines Angeklagten vollends begreift, daß er mit mindestens fünfundzwanzig Jahren rechnen mußte.
Es war so gräßlich, es konnte bloß ein Witz sein. Ich selber hatte, soweit ich mich erinnerte, überhaupt noch niemanden kennengelernt der schon so lange auf Erden gelebt hatte. Und Hotel, der war erst achtzehn oder neunzehn.
Bis jetzt war das Ganze ein Geheimnis gewesen, wie eine unheilbare Krankheit Ich war voller Neid, daß er ein so großes Geheimnis für sich behalten konnte, und zugleich bestürzt, daß ausgerechnet ein Schwächling wie Hotel mit einer so seltenen Fähigkeit gesegnet sein sollte, ohne auch nur das kleinste bißchen damit herumzuprahlen. Hotel hatte mich mal um hundert Dollar betrogen, und hinter seinem Rücken hatte ich immer schlecht über ihn geredet; dennoch war unsere Verbindung, seit er mit fünfzehn oder sechzehn bei uns aufgetaucht war, nie ganz abgerissen. Ich war verblüfft und erschüttert, ja am Boden zerstört, weil er es nicht für nötig gehalten hatte, mir von seinen Schwierigkeiten zu erzählen. Es war wie ein Fingerzeig, daß ich hier nie echte Freunde finden würde.
Und gerade jetzt war sein Haar so sauber und blond, daß es mir schien, als würfe selbst hier, in diesen unterirdischen Regionen, die Sonne ihr Licht auf ihn.
Ich sah mich um. Das Vine war ein langgestreckter, schmaler Raum, wie ein Eisenbahnwaggon, der nirgendwohin fährt Die Leute kamen einem alle vor, als wären sie vor irgend etwas auf der Flucht – an einigen Handgelenken entdeckte ich Krankenhaus-Namensbänder aus Plastik. Ihre Drinks versuchten sie mit Falschgeld zu bezahlen, das sie sich im Copyshop gemacht hatten.
«Ist schon lange her, das Ganze», sagte er.
«Aber was hast du getan? Wen hast du abgezockt?»
«Letztes Jahr war’s. Ja, letztes Jahr.» Er mußte über sich selber lachen, weil er eine Art von Gerechtigkeit auf sich herabbeschworen hatte, die ihn so lange vor sich hertreiben würde.
«Aber wen hast du denn abgezockt, Hotel?»
«Ach, frag nicht Scheiße. Kacke. Großer Gott» Er drehte sich weg und begann ein Gespräch mit ich-weiß-nicht-wem.
Das Vine war jeden Tag anders. Einige der schlimmsten Sachen, die mir im Leben passiert sind, sind hier passiert. Trotzdem ging ich immer wieder hin, genau wie die andern auch.
Und mit jedem Schritt brach mir das Herz, weil ich die eine nie finden würde, die eine, die mich liebte. Und dann fiel mir ein, daß ich ja zu Hause eine Frau hatte, die mich hebte; und später: daß meine Frau mich verlassen hatte und die Angst mich halb umbrachte; und noch später: daß ich eine wunderschöne alkoholkranke Freundin hatte, die mich für immer glücklich machen würde. Doch jedesmal wenn ich den Raum betrat, blickte ich in verschleierte Gesichter, die alles versprachen, sich aber im Handumdrehen ins Stumpfe und Gewöhnliche klärten, wie sie da zu mir aufsahen und wieder alles falsch machten.
In jener Nacht saß ich in einer Nische Kid Williams gegenüber, einem früheren Boxer. Seine schwarzen Hände waren vernarbt und klobig, und schon immer hatte ich das Gefühl gehabt, er könnte sie plötzlich ausstrecken und mich erwürgen. Er sprach mit zwei Stimmen. Er war Mitte Fünfzig. Er hatte sein ganzes Leben vergeudet. Bei denen von uns, die erst ein paar Jahre vergeudet hatten, waren Leute wie er sehr beliebt: Wenn Kid Williams einem gegenübersaß, war die Frage, ob man mit diesem Leben noch ein, zwei Monate weitermachen sollte oder nicht, kaum mehr der Rede wert.
Ich hab nicht übertrieben, als ich das mit den Krankenhaus-Namensbändern sagte. Kid Williams trug eins am Handgelenk. Er war auf Entzug und nur mal schnell über die Mauer geklettert «Gebt mir einen aus,
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