JoJo Und Ich
gehabt hatte! An der Oberfläche bleiben und von der Sonne verbrannt werden oder im Schutz des Wassers zu bleiben und eventuell zu ertrinken. Er hatte das ihm Mögliche getan und die weniger schlimme Wahl getroffen.
Mein armer Freund war vollkommen erschöpft und traumatisiert. Jetzt ging es darum, ihn vorsichtig freizuschneiden. Ich atmete tief durch, nahm die rostige Zange zur Hand und ließ mich ins Wasser.
»Es tut mir so leid, JoJo«, sagte ich, als ich bei ihm war. »Aber was jetzt kommt, muss einfach sein, du wirst es sicher verstehen.«
JoJo sah mich mit einem gequälten, flehenden Blick an, als müsste ich sofort alles wieder gut machen können. Hätte ich das doch nur gekonnt! Ich schickte ihm alles an heilenden Bildern und Energien, was ich nur aufbieten konnte.
Die Drahtschere war derart eingerostet, dass sie sich kaum bewegen ließ, um die Netzschnüre durchzuschneiden. Der erste Schnitt war der schwierigste. Ich musste mich mit einem Arm auf JoJos sonnenverbranntem Rücken abstützen und dabei versuchen, die Einschnitte so wenig wie möglich zu berühren. Ich schob die Schere unter den tief in die aufgequollene Haut eingegrabenen Faden. Dann der erste Schnitt. Hunderte weitere folgten, und dann musste ich die vielen Reste des Netzes aus der Delfinhaut ziehen.
»Alles gut, JoJo«, sagte Melinda besänftigend vom Boot aus. »Wir helfen dir.«
Ich biss die Zähne zusammen und zog Zentimeter für Zentimeter die Fäden aus der Haut an seinem Rücken. JoJo zuckte und zitterte. Dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich zu wehren, war das einzig Gute an diesem ganzen Elend.
Die Arbeit ging qualvoll langsam voran. Ich sah in seinen zuckenden Augen, wie sehr ihm jeder entfernte Faden wehtat. Mir ging es nicht anders.
Zugleich kochte aber auch langsam die Wut in mir hoch. Ich hätte dieses Netz nur so zerfetzen können. Wie konnte dieser Idiot, wer immer es auch gewesen sein mochte, so ein Netz einfach treiben lassen? Alle Schildkrötennetze, die je hergestellt wurden, gehören verbrannt! Wie können die Leute nur so borniert sein? Sehen sie denn nicht, was sie da anrichten?
Stundenlang schnitt und zupfte ich und konzentrierte mich bewusst ganz auf die Arbeit, um mich nicht von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen.
»Nur noch ein paar«, sagte ich immer wieder, »dann haben wir es geschafft.«
Schließlich war der letzte Faden gezogen, und ich strich JoJo über den Schnabel. Wir tauschten einen langen Blick. Er war frei. Mehr denn je empfand ich die Intensität unserer Freundschaft, und ihm schien es nicht anders zu gehen. Er hatte mich in der Vergangenheit schon einige Male gerettet. Und jetzt wusste er, dass auch ich es jederzeit für ihn tun würde.
Vielleicht liegt es im Wesen von Delfinen, dass sie nicht nur untereinander enge Beziehungen pflegen, sondern auch zu anderen Lebewesen.
Der Rückweg zum Flugzeug fiel mir sehr schwer, denn gern ließ ich JoJo nicht allein. Doch ich tröstete mich damit, dass ich bald wieder da sein würde, und zwar mit den Medikamenten, die er jetzt dringend benötigte.
Später erst wurde mir klar, dass der Wasserarm, der für JoJo zur Falle geworden war, zu der Stelle führte, an dem damals der größte Teil seiner Delfingemeinschaft gestrandet war. Er muss an dem Ort um sein Leben gekämpft haben, an dem er womöglich seine Mutter hatte sterben sehen. Ich erschauerte. Was mag ihm alles durch den Sinn gegangen sein, während die Sonne auf ihn herunterbrannte und die Fasern sich in sein Fleisch gruben?
Ich war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passieren konnte.
In den nächsten Wochen suchte ich JoJo jeden Tag nach möglichen Infektionen ab und verfolgte das Abheilen seiner Verbrennungen. Die Tierärzte empfahlen mir Salben, mit denen ich die Wunden, die der Sonnenbrand hinterlassen hatte, abdeckte, um die Heilung zu beschleunigen. Diese Prozedur, die ihm zweifellos wehtat, hätte ich ihm gern erspart. Aber er leistete keinerlei Gegenwehr, sondern fügte sich, und zwar, wie es schien, gar nicht ungern.
Nach dem Trauma, das er erlitten hatte, brauchte er wohl meine Nähe. Er war wie ein in der Fremde verwundeter Soldat, der sich nur noch danach sehnt, die Stimme seiner Frau zu hören.
Mir ging natürlich weiterhin der Gedanke im Kopf herum, wie leicht JoJo hätte ertrinken oder an Erschöpfung sterben können, ganz abgesehen von der Gefahr eines Haiangriffs. Nachlässig beaufsichtigten Schildkrötennetzen fallen auch viele
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