Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
gezögert? Was hat dich zweifeln lassen?«
»Ich weiß nicht.«
»Trotz allem, was geschehen ist, glaubst du also noch immer nicht an deine Fähigkeiten?«
Sie lächelte verständnisvoll und blieb vor der Tür mit den seltsamen unleserlichen Schriftzeichen stehen, die ihn kurz zuvor so sehr fasziniert hatten.
»Weißt du, was dahinter verborgen ist?«
Jonathan zögerte. »Als ich vorhin daran vorbeigegangen bin, hatte ich das Gefühl, die Schrift lesen zu können: ›Tritt ein, wenn du nicht fürchtest, was du bist‹.«
Seraphinas Lächeln wurde geheimnisvoll. »Warum probierst du es nicht einfach aus?«
»Ist es gefährlich?«
»Nur, wenn du Angst vor der Wahrheit hast. Alles, was du sehen wirst, ist dein Schatten. Nicht dein normaler Schatten, sondern der Schatten deines wahren inneren Selbst. Viele Männer, die sich für unbesiegbar hielten, haben den Schatten von kleinen Kindern gesehen. Manche, die sich für gütig hielten, sahen den einer Bestie. Andere wiederum, die dachten, sie seien unwürdig und klein, stellten plötzlich fest, dass ihr Schatten groß und stark war. Wie mag deiner aussehen?«
Zweifelnd sah Jonathan auf die fremdartigen Schriftzeichen über der Tür, und sein Blick wanderte zu der goldenen Klinke.
»Wie du dich auch entscheidest, ich muss mich jetzt von dir verabschieden.« Seraphina nahm noch einmal seine Hände. »Wir sehen uns wieder, Jonathan.«
Er nickte. »Das wäre schön.«
Sie nahm ihn in den Arm wie eine Mutter und drückte ihn fest an sich. Dann, mit einem letzten gütigen Lächeln, ließ sie ihn allein.
Jonathan stand unschlüssig vor der Tür. Was, wenn er nun den Schatten eines Hasen sah? Dann würde er Gewissheit haben und sich bis ans Ende seiner Tage hinter seinen Büchern verstecken.
Aber was, wenn nicht?
Er musste es wissen. Also nahm er all seinen Mut zusammen, drückte die Klinke herunter und betrat einen schlichten marmornen Saal, der abgedunkelt war. Ein Licht hing von der Decke herab, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Es war in einen runden Käfig gesperrt und funkelte silbrig wie etwas Lebendiges. Als er hineinblickte, flammte es auf und blendete ihn. Er wartete, bis seine schmerzenden Augen sich erholt hatten, dann sah er zu seinen Füßen. Dort war der Anfang eines langen Schlagschattens. Vorsichtig, mit klopfendem Herzen, hob er seinen Kopf.
Was er sah, raubte ihm den Atem.
Sein Schatten war riesig und hatte seltsame Formen, die keinesfalls menschlich waren. Prüfend hob er die Arme und stellte fest, dass er riesige Schwingen hatte, die ebenso majestätisch wie bedrohlich wirkten. Als sein Herz sich beruhigt hatte, sah er die Formen klarer und wusste, was er war.
»Ein Drache«, flüsterte er nicht ohne Stolz. »Ich bin ein Drache!«
Er beschloss, dieses Bild für immer fest in seinem Herzen zu behalten und sich daran zu erinnern, wenn ihn Zweifel plagten. Als er den Raum verließ, verschloss er die Tür sorgsam hinter sich und ging zurück durch die lange Säulenhalle. Cassius wartete vor dem Tor auf ihn, so wie er es versprochen hatte.
»Bereit?«, fragte er, als er Jonathan sah.
»Bereit!«, antwortete Jonathan. Und lächelte.
Weitere Kostenlose Bücher