Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
darin schlief.
»Ein schlechter Zeitpunkt für einen Ausflug. Ihr wollt nicht auf mich hören? Dann müsst ihr die Konsequenzen ertragen!«
Zornig presste sie die Lippen zu zwei dünnen Strichen zusammen und zog ein Etui hervor. Jonathan hielt den Atem an, als er sah, dass es ein Messer enthielt. Der Griff war gebogen, die Klinge durchlässig wie stumpfes Glas. Licht verfing sich blitzend in der scharfen Schneide. Die Angst war wieder da, stärker als zuvor. Er musste schnellstens verschwinden und die Polizei rufen!
Die Frau platzierte das Messer auf dem Kopfkissen seiner Mutter.
»Erinnert euch an das Versprechen! Erinnert euch«, flüsterte sie.
Schritt für Schritt wich Jonathan zurück und hatte nur einen Gedanken: Weg hier! In seiner Nervosität stieß er mit dem Rücken gegen die Wand und riss ein gerahmtes Foto herunter. Es fiel polternd zu Boden. Das Geräusch war so laut, dass man es noch zwei Straßen weiter hören konnte. Mit einem einzigen Satz war die Fremde bei ihm und packte ihn. Sie war erstaunlich kräftig, ihre knochigen Finger eiskalt. Jonathan wollte schreien, doch seiner Kehle entkam nur ein Krächzen. Ihr Blick sah hinab bis auf den Grund seiner Seele.
»Wer bist du?«, wisperte sie.
Seine Stimme versagte vollends. Sie packte seinen Kopf mit beiden Händen und drehte ihn nach rechts und links. Ihre langen Fingernägel hinterließen ein widerliches Kribbeln auf seiner Haut.
»Antworte!«
»Das ist mein Zuhause«, brachte Jonathan hervor.
»Lüg mich nicht an, Bürschchen!«
Sie hob die Hand und drohte einen Schlag an. Da bemerkte sie die Fotos an der Wand. Bilder seiner Familie. Jonathan an seinem dritten Geburtstag. Jonathan mit der Schultüte im Arm. Jonathan mit seinen Eltern im Italien-Urlaub. Erinnerungen ihrer gemeinsamen Vergangenheit, die Helena pflegte wie einen kostbaren Schatz. Die Augen der Frau weiteten sich vor Unglauben und Staunen. Sie entließ Jonathan aus ihrem Griff, um die Fotos genauer zu betrachten.
»Cornelius Harkan hat einen Sohn! Du bist sein Kind, nicht wahr?«
»J… Ja …«
Sie lachte heiser. »Das ist unglaublich. Dieses Geheimnis hast du gut gehütet, Cornelius, du verfluchter Heuchler. Wie heißt du, Kleiner? Na los, na los. Nicht so schüchtern.«
»Jonathan.«
»Und wie alt magst du wohl sein, Jonathan Harkan?«
»I… ich bin im Mai dreizehn geworden.«
Ihre Augen wurden noch größer. »Dreizehn Jahre! Natürlich! Ebenso lang ist Cornelius verschwunden, hat sich versteckt wie die Laus unter einem Stein. Ja, das erklärt so einiges.«
Jonathan verstand kein Wort ihres wirren Geredes.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
Sie spreizte die langen Finger vor seinem Gesicht. Ängstlich wich er zurück. Sie folgte ihm.
»Ein Schatten, eine Ausgeburt deiner Träume, ein Nachtmahr! Du wirst mich vergessen, Bürschchen, beim Licht des neuen Tages. Du wirst mich vergessen! Hast du verstanden?«
»Ja«, hörte er sich sagen.
»Nun geh, und stell keine dummen Fragen mehr! Du bist müde. Du hast nur noch den Wunsch zu schlafen. Schlafen …«
Jonathan starrte auf ihre langen Fingernägel, die vor seinem Gesicht tanzten. Die Geste, der Blick, die Stimme hatten etwas Hypnotisches. Sosehr er sich auch dagegen wehrte, plötzlich wurde er von einer schläfrigen Gleichgültigkeit erfasst, die jeden Widerstand im Keim erstickte. Die Fremde lächelte, sagte etwas, das er nicht mehr verstand, wirbelte herum und verschmolz mit der Nacht. Der Drang sich hinzulegen wurde so stark, dass Jonathan sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Mit letzten Kräften schleppte er sich in sein Zimmer. Noch bevor er sich die Decke über den Kopf ziehen konnte, fiel er in die Arme des Schlafs.
* * *
Als Jonathan erwachte, schien die Sonne durch sein Fenster. Verwundert blinzelnd sah er sich um. Er wusste, dass etwas geschehen war, doch sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Er zog den Vorhang zur Seite und blickte hinaus in den Park, der sich hinter ihrem Reihenhaus erstreckte. Birken wiegten sich im Sommerwind, Kinder spielten auf den Straßen, nichts deutete darauf hin, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Schulterzuckend warf er die Decke zur Seite und schlüpfte in frische Kleidung. Mit einem prüfenden Blick in den Spiegel strich er durch sein struppiges Haar und rieb sich den Schlaf aus dem Gesicht. Ein müder Junge blickte zurück, dem das T-Shirt etwas zu groß über den schmalen Schultern hing. Seine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher