Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Tiefe führte. Vorsichtig stieg er hinab, immer tiefer, bis er sich in einer von Säulen getragenen Halle wiederfand, die von warmem honiggelbem Schimmer erfüllt war. Er musste einen Aufschrei unterdrücken, als er bemerkte, dass er nicht allein war. Am Ende der Halle, ruhend unter den Säulen, lag ein Berg aus Schuppen und Krallen. Er hatte sich zusammengerollt und schlief. Ein riesenhafter, rot schimmernder Leib hob und senkte sich mit ruhigen Atemzügen. Jonathan sah keinen Schädel, aber er konnte sich lebhaft ausmalen, welch grauenhaftes Raubtiermaul hinter diesem Körper verborgen war.
Hilfesuchend blickte er sich um. Cassius war weit weg, er würde ihm nicht helfen können. Die Bestie schlief unruhig, und er wusste, dass das kleinste Geräusch sie wecken konnte. Langsam, Schritt für Schritt, ging er rückwärts auf den Ausgang zu. In diesem Augenblick bebte der Körper des Monstrums, und ein gewaltiger Schädel hob sich. Er gähnte und riss dabei sein Furcht einflößendes Maul weit auf. Dann erklang seine raue Stimme, die das Blut in Jonathans Adern gefrieren ließ:
»Ich rieche Fleisch … Menschenfleisch …«
Jonathan schrie erschrocken auf und wollte um sein Leben laufen, als er sich plötzlich einer alten Dame gegenübersah, die ein Tablett mit Tee in ihren Händen hielt.
»Vorsicht, oder willst du mich über den Haufen rennen?«
Er prallte zurück, als er ihr Gesicht sah. Er kannte sie. Ja, natürlich! Die alte Johanna aus dem Haus am Waldrand! Die Ähnlichkeit war verblüffend: ein fast schon jugendliches Gesicht mit freundlichen, blitzenden Augen und langes schlohweißes Haar, das zu einem Zopf geflochten war. Sie trug ein schlichtes dunkles Kleid, das wallend zu Boden fiel.
Vielleicht war es ihr freundliches Lächeln, vielleicht der liebevoll-amüsierte Blick, den sie ihm zuwarf, oder auch ihre ganze würdevolle Erscheinung, aber Jonathan wusste instinktiv, dass er ihr absolut vertrauen konnte. Sie war keine Gefahr, im Gegensatz zu der Bestie, die langsam erwachte und ihre Glieder dehnte und streckte.
»Vorsicht«, rief Jonathan. »Da ist ein … Ding!«
Sie lachte begütigend. »Er hat nur ein kleines Mittagsschläfchen gehalten. Ich habe mir die Freiheit genommen, uns einen schwarzen Tee zu kochen. Earl Grey. Du magst doch Tee, oder nicht? Leider habe ich keinen Zucker gefunden.«
Erstaunt beobachtete Jonathan, dass sie direkt auf das riesige Monstrum zuging. Der Drache gähnte noch einmal herzhaft und erhob sich schließlich zu seiner vollen Größe. Dunkel glänzende Schuppen bedeckten seinen Leib, auf seinem Rücken ruhten zusammengefaltete Schwingen, und sein Schwanz war mit Stacheln gespickt. Der echsenartige Schädel hatte überraschenderweise fast menschenähnliche Züge. Seine Augen funkelten amüsiert auf Jonathan herab.
»Ein mickriger Happen. Nicht sehr sättigend.«
Die alte Dame ging zu einem Kamin im Seitenflügel, vor dem eine gemütliche Sitzecke aus Ohrensesseln wartete, und stellte das Tablett auf ein Tischchen.
»Setz dich doch. Du musst Hanley entschuldigen, er hat eine etwas seltsame Art von Humor. Keine Angst, er hat garantiert nicht die Absicht, dich zu fressen. Er muss strikte Diät halten, der Gute.«
»Hanley?«, fragte Jonathan verdattert.
»Genau genommen Sir Hanley. Das ist sein Name. Ich heiße Seraphina, und du bist Jonathan, nicht wahr? Damit hätten wir die Vorstellungsrunde hinter uns.« Sie wandte sich dem Drachen zu und deutete auf den Kamin. »Wären Sie wohl so freundlich, mein Lieber?«
»Natürlich, Verehrteste. Bitte treten Sie zur Seite.«
Die alte Frau gab den Weg frei, und der Drache blies einen dünnen Feuerstrahl in das Kaminholz, das sofort hell loderte. Sie schenkte zwei Tassen Tee ein und legte zwei Stück Kuchen auf die bereitgestellten Porzellanteller. Als sie Jonathans Zögern bemerkte, warf sie ihm ein freundliches Lächeln zu.
»Nur zu. Nimm eine Tasse. Und Kuchen, wenn du magst. Habe ich selbst gebacken. Keine Angst, hier bist du vollkommen sicher.«
Er war noch immer nicht vollständig überzeugt, wollte aber auch nicht unhöflich sein. Zögerlich nahm er in einem der Sessel Platz. Die alte Dame reichte ihm ein Stück Kuchen, während der Drache ihn mit fast neidischen Blicken beobachtete.
»Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise«, sagte er, als ob er seinen missratenen Scherz mit höflicher Konversation vergessen machen wollte.
»Ja, danke«, sagte Jonathan.
Die alte Dame nahm nun ebenfalls Platz und nippte von
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