Jones, Susanna
um das Maß der Ungerechtigkeit voll zu machen, wurde sie gezwungen, Mädchenschulen zu besuchen. Die einzigen Männer, mit denen sie überhaupt ein paar Worte wechselte, waren Busfahrer und Kohlenmann. Sie wünschte sich einen Mann, der sie hochheben und ihr sagen würde, dass sie eine kleine Prinzessin war. Als Erwachsene wurde Miriam endlich für ihre Leiden entschädigt. Sie forderte ihre rechtmäßige Stellung im Mittelpunkt männlicher Aufmerksamkeit ein, und ihre sieben Söhne waren Teil dieses Privilegs.
«Was soll's», sagte sie, als sie den Schmerz im Innersten ihres Wesens spürte und erkannte, dass dies ihr letztes Baby sein würde. «Jemand, der mir beim Lakenfalten hilft. Krähenaugen hin oder her.»
Solcherart war Miriams bewunderungswürdiger Stoizismus im Angesicht niederschmetternder Enttäuschung. Sie trug sich im ersten Moment mit dem Gedanken, das Baby Linda zu nennen, was «schön» bedeutet. Aber die Diskrepanz wäre zu grausam gewesen, und so wurde das kleine Mädchen auf Anregung der Hebamme hin Lucy genannt, was «Licht» bedeutet, weil George gerade auf einem Stuhl gestanden und die Glühbirne ausgewechselt hatte, als Lucy herausgeplumpst war. Er war unverzüglich und ohne hinzusehen wieder aus dem Zimmer gegangen, damit die Frauen ihre Geschäfte mit Blut und warmem Wasser unter sich ausmachen konnten. Er erwartete die Nachricht im Erdgeschoss.
«Ein Mädchen?» Sein Gesicht verriet ehrliche Verwunderung. «Du meine Fresse.»
Eine nähere Erhellung dieser Äußerung ist nicht überliefert. Auf alle Fälle änderte sich das Leben für George und Miriam nicht allzu sehr. Zum Tee gab es weiterhin dienstags Shepherd's Pie und freitags Fischstäbchen. Ein Mädchen konnte Jungensachen tragen, größtenteils jedenfalls, und schien auch keiner Sonderbehandlung zu bedürfen. Sie taperte durch die Wohnung, lernte auf eigene Faust dies und das und machte einen Bogen um ihre Brüder, die nicht recht einsahen, wozu sie gut war, obwohl sie eine prima Kanonenkugel abgab, wenn sie die Verglasung des Gewächshauses testen wollten. Auch Miriam nutzte Klein-Lucy nicht allzu viel, nicht einmal als Gehilfin, denn sie war furchtbar ungeschickt. Beim Spülen machte sie ständig was kaputt, und heiße Kuchenbleche ließ sie grundsätzlich fallen. Sie konnte nicht kochen, wie sehr sie sich auch bemühte.
Miriam knurrte: «Wie willst du je einen Mann abkriegen, wenn du nicht backen kannst? Eins kann ich dir sagen: Du kommst nie auf einen grünen Zweig.»
«Doch», sagte Lucy mit der Stimme in ihrem Kopf, die immer wieder das Gleiche sagte, «auf jeden Fall komm ich von hier weg.»
Aber als Lucy sieben war, zogen sie von Scarborough weg, und es wurde schlimmer. Die Familie zog in eine Kleinstadt ein Stück weiter die Küste hinunter, sodass Miriam sich über ihre Isoliertheit beklagen konnte. Anders als Scarborough hatte dieses Städtchen keine Klippen, keine Hügel. Es war platt und leer. Man konnte da nichts anderes tun als zum Strand gehen. Jeden Sonntag aßen sie sandige Sandwiches im Tränen treibenden Wind und schwammen in der rauen, kalten Nordsee. Die sieben Brüder spielten «Tod in der Brandung», während Lucy es vorzog, sich auf der Promenade auf eine Bank zu setzen und ein Buch zu lesen. Selbst da oben war es zu windig, aber es war immer noch besser, als sich auf die splittrigen hölzernen Wellenbrecher werfen zu lassen und sich die ganze Haut abzuschürfen. Miriam missbilligte dies.
«Wir kommen extra hier raus und leisten uns ein Haus am Meer, und du verdrückst dich und steckst deinen Zinken in irgend so ein Buch. Du bildest dir ein, du wärst was Besseres. Bist du aber nicht. Du bist lediglich allergisch gegen frische Luft.»
Die Nordsee wurde Lucys erster Feind. George erzählte ihr, dass auf der anderen Seite Norwegen lag. Und wenn man ein Loch in den Sand grub und immer weiter grub, kam man irgendwann in Australien wieder raus, mit dem Kopf nach unten. Lucy entschied, dass Norwegen noch immer die realistischere Option darstellte. Eines Ostküsten-Sommernachmittags, als Meer und Himmel grau waren und der Wind über den Strand fegte, stach Lucy in See. Sie legte sich auf die familieneigene Luftmatratze und paddelte so schnell, wie sie konnte: Wie sie wusste, brauchte sie nichts anderes zu tun, als nicht herunterzufallen und sich nicht zurücktreiben zu lassen. Die Nordsee hielt gar nichts von der Sache. Sie schaukelte und schubste. Schließlich warf sie sie um, sodass Lucy sich an der
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