Jones, Susanna
gegenseitig noch eigenartiger aussehen, aber sie hatten viel gemeinsam. Lucy spielte Cello und Lizzie Posaune. Manchmal musizierten sie zusammen in den Pausen. Sie suchten sich eine ruhige Ecke in einem Klassenzimmer oder auf dem Hof und spielten einfache Duette nach Stücken, die sie vom Schulorchester geklaut oder im Radio gehört hatten. Sie waren eine Abnormitätenshow und wurden natürlich angestarrt, ausgelacht, manchmal auch geärgert. Aber niemand unternahm je den Versuch, sie zum Aufhören zu bewegen.
Sie hatten keinen Grund zur Klage. Es war ihnen nur recht, wenn sie unter sich bleiben konnten. Beschimpfungen von Seiten dieser Mistbauern konnten sie nicht verletzen. Sie versuchten immer wieder, eine eigene Sprache zu erfinden, wenn auch in der Regel ohne Erfolg. Aber in Französisch zogen sie dem Rest der Klasse spielend davon. Lucy und Lizzie lasen Asterix-hefte, schrieben sich Wörter aus ihren Französischlexika heraus, unterhielten sich auf Französisch. Immer wenn ihnen die Vokabeln oder die Flexionen fehlten, erfanden sie sie und sprachen das Ergebnis mit einem französischen Akzent aus, den sie von Debbie Harry aus «Top of the Pops» kopierten. Sie glaubten ehrlich, Französisch zu sprechen, auch wenn Lucy sich mittlerweile fragt, ob ein Franzose auch nur ein Wort von dem verstanden hätte, was sie sagten.
Doch das war Lucy noch nicht genug. (Was war ihr überhaupt genug?) Die Geheimsprache war nicht ausreichend geheim, um eine vollkommene Absonderung von den anderen zu garantieren. Und außerdem fehlte Lizzie ständig in der Schule, weil sie sich einbildete, krank zu sein. Im Laufe der Jahre zog sie sich Krebs, Arthritis, Hexenschuss, Grippe, Meningitis, Gicht, Dengue-Fieber und mehr zu. Lucy wusste, dass Lizzie unmöglich das alles gehabt haben konnte, aber sie litt so, ab hätte sie's doch. Lucy hatte eine gusseiserne Konstitution und fühlte sich ohne ihre Freundin einsam.
Während Lizzies Phantasie durch die Seiten eines medizinischen Lexikons schweifte, galt Lucys Begeisterung dem Atlas. Sie bewahrte den Hausbestand an Karten und Atlanten zusammen mit einer Taschenlampe unter ihrem Bett auf. Sie studierte pro Nacht ein Land, seine Gebirgszüge, seine Flüsse und vor allem seine Sprache. Ein Klassenausflug ins British Museum führte zu Lucys Offenbarungserlebnis. Sie sah zum ersten Mal den Stein von Rosette und erkannte die Schwachstelle ihrer Bildung. Das lateinische Alphabet. Umgeben von durcheinander schnatternden Teenagern, starrte Lucy auf den Stein. Die Hieroglyphen schienen sie mit ihrer verborgenen Bedeutung zu verspotten, aber sie wusste, dass sie eine Botschaft für sie enthielten. Die Botschaft lautete, dass sie eine Sprache lernen sollte, die keiner, den sie kannte, würde lesen, geschweige denn sprechen können.
Lucy verließ Yorkshire und zog nach London, um Japanisch zu studieren. Sie entschied sich für London, weil ihr nichts einfiel, was nach ihrer Kleinstadt am Rande von England besser gewesen wäre als das genaue Gegenteil, die Hauptstadt. Ihre Sprachwahl traf sie nach gründlicher Überlegung. Das Chinesische hatte über sechstausend Schriftzeichen, während Japanisch mit läppischen zweitausend auskam. In dem Punkt hatte Chinesisch die Nase vorn. Aber die Landkarte gab den Ausschlag. Japan lag ein Stückchen weiter weg von England, und das war ein wichtiger Gesichtspunkt. Japan war fast so weit weg, wie man überhaupt kommen konnte, ohne anzufangen, auf der anderen Seite des Globus wieder heimwärts zu rutschen - es sei denn, man fuhr nach Australien, was aber nicht zählte, weil sie dort Englisch redeten. Es gab keine Tränen, nur Erleichterung auf beiden Seiten. Die meisten Brüder waren schon von zu Hause weg, und das hatte Lucy und Miriam in eine unbehagliche Nähe zueinander gerückt. George war schon zwei Jahre zuvor aus Trauer um Noah gestorben, in den Armen einer Frau, die nicht Miriam war, und damit war der Punkt abgehakt.
Auf der Universität machte Lucy die erregende Entdeckung, dass nicht ihre bisherige Diät aus Fischstäbchen, Rosinenbrötchen oder sogar rohen Kochäpfeln den besten Betriebsstoff für ihren Körper darstellte, sondern regelmäßige Gaben von Alkohol und Sperma. Die machten sie gesünder, glücklicher und intelligenter. Sie nahm Männer aufs Korn, die schon betrunken waren, wenn sie sie zum ersten Mal sahen, weil sie sich dann nicht von ihren seltsamen Augen abschrecken ließen. Sie stellte fest, dass ihre Augen dem jeweiligen Besoffenen
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