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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo die Erde bebt
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die Finger zerschneiden würde. Wenn man ihn schmiss, konnte man damit wahrscheinlich glatt einem Elefanten den Kopf absäbeln. Und noch bevor sie den Stein zu Ende bemerkt hatte, war da eine Hand dran. Noahs fette Finger hatten die Waffe gepackt und hoben sie vom Gras auf. Er sah zu ihr hoch, und seine blassblauen Augen funkelten vor Bosheit. Lucy zog sich auf dem langen Ast ein Stückchen zurück. Als Noahs Arm zum Wurf ausholte, stieß sie sich mit aller Kraft ab. Sie sprang in einer vollendeten Flugbahn vom Baum und landete auf Noah. Noah fiel hintenüber und rammte sich einen langen rostigen Nagel, der aus einer von Lucys Holzplanken ragte, zwischen die Schulterblätter. Er richtete sich mit der an seine Rückseite gehefteten Planke wieder auf und war ausnahmsweise einmal sprachlos. Dann fiel er wieder um, und der Stein rollte ihm aus der Hand. Seine blonden Locken klebten ihm an der schwitzigen Stirn. Seine Augen waren offen, noch immer starr auf Lucy gerichtet. Er starb im Krankenhaus noch in derselben Nacht.
    Ich übergehe die verheerenden Auswirkungen, die diese Tat auf die Eltern des schönen Knaben hatte. Es reicht, wenn ich sage, dass Lucy fortan jeden näheren Umgang mit ihren Angehörigen vermied und sich mit ihrer eigenen Gesellschaft begnügte, wenngleich es ihr keine Freude mehr bereitete, auf ihrem Baum zu sitzen. Sie hatte Noah nur platt machen wollen, nicht anstechen. Schließlich - und gegen den ausdrücklichen Wunsch des Gemeinderates - fällte George den Kochapfelbaum, hackte ihn in Stücke und machte daraus ein prasselndes orangerotes Johannisfeuer. Wallte der Rauch, und trieb er ihm Tränen in die Augenwinkel? Lucy erfuhr es nie. Sie schaute nicht zu.
    Die nächsten drei Jahre lang sprach Lucy kein Wort Der letzte Mensch, mit dem sie redete, war die freundliche Schwester, die sie aus dem Krankensaal holte und sie, die Hand fest um ihre kleine Hand geschlossen, einen Korridor entlangführte, in dem es nach Kotze und Desinfektionsmittel roch. Sie sagte zu Lucy: «Du weißt doch, dass es nicht deine Schuld war, nicht wahr?»
    Und Lucy antwortete: «Ja, nein, ja», weil sie die Frage nicht verstand und nicht wusste, welche Antwort die Krankenschwester hören wollte.
    Danach sagte sie nichts mehr, brachte kein einziges Wort mehr heraus, und das Leben wurde viel unkomplizierter. Zu Hause merkten die anderen entweder nichts davon, oder es war ihnen lieber so. Die sieben (sechs) Brüder hatten seit dem Zwischenfall jeden Appetit auf Lucys Blut verloren. In der Schule ließen die Lehrer sie in Ruhe; schließlich gab's in jedem Jahrgang ein paar Sonderlinge. Die anderen Kinder tuschelten über sie, aber sie kamen ihr nie zu nah, da sie wussten, wie leicht ihr das Töten fiel. Es vergingen drei Jahre der Stille, der Seligkeit. Dann gewann sie die County-Jugendmeisterschaft im Schach.
    Die Lokalzeitung hatte einen Artikel über Lucy, das Tragische Stumme Genie, vorbereitet. Wenn es etwas gibt, was Lucy noch nie und unter keinen Umständen hat vertragen können, dann ist es die Anmaßung, über Lucy Bescheid zu wissen. Wie selbstgefällig, wie selbstverständlich schrieben sie diesen Unfug über ihre Einsamkeit, ihre Flucht in das Schach als einen letzten verzweifelten Versuch, mit der Welt zu kommunizieren! Lucy hatte gerade deswegen angefangen, Schach zu spielen, weil man dabei nicht zu reden brauchte. Schach! lässt sich mit Augen und Augenbrauen ausdrücken. Wenn irgendein Pedant unbedingt auf der Verwendung des Wortes besteht, dann kann man es sich auf den Handrücken schreiben. Und so trat sie bei der feierlichen Preisverleihung ans Mikrophon, machte den Mund auf und sagte deutlich, aber beiläufig «Danke», als wäre
    Reden etwas ganz Alltägliches für sie. Schachmatt. Bloß, dass sie damit nur sich selbst festgenagelt hatte. Nachdem sie wieder gesprochen hatte, war es ihr unmöglich, zum Schweigen zurückzufinden.
    Auf der Oberschule fand Lucy eine Freundin, die erste und einzige Freundin, die sie hatte, bis sie von zu Hause auszog. Sie hieß Lizzie. Auch wenn Lucy mittlerweile sprach, hatten die anderen Kinder sie längst für verrückt erklärt. Lucy akzeptierte die Verrücktheit als ihre Definition und schlüpfte problemlos in ihre neue Rolle als Freundin anderer Verrückter. Lizzie war ebenso schlaksig, wie Lucy vierschrötig war. Schon mit elf war sie so groß wie die größten Lehrer. Sie hatte langes strähniges Haar und ein schmales trübseliges Gesicht. Die beiden ließen sich

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