Jones, Susanna
Unterseite der Luftmatratze festklammerte und den Mund voll Salzwasser bekam. Sie hatte keinen Boden unter den Füßen, und zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben geriet sie in Panik. Aber das Ungeheuer würde Lucy nicht zu fressen bekommen. Sie schwamm so schnell, wie sie konnte, und erreichte das Ufer mehrere Minuten vor der Luftmatratze. Keiner hatte ihre Abwesenheit bemerkt, aber andererseits bemerkten sie selbst ihre Anwesenheit nur selten.
Die sieben Brüder sprachen kaum je mit Lucy. Miriam war es lieber so. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es die Jungen entwürdigt hätte, ihre Aufmerksamkeit eher einem kleinen
Mädchen als ihrer Mutter zu widmen. In Miriams Augen waren die sieben Söhne Engel. Das waren sie nicht. Sie waren Schweine, die mit Wasserbomben hinter Türen lauerten, Nachbarskindern mit Kartoffelkanonen in die Augen schossen und sich den Arsch mit dem Handtuch abwischten, wenn es ihnen zu mühsam war, das Ende des Klopapiers zu finden.
Für Lucy milderte sich das Unglück, sieben solche älteren Brüder zu haben, nicht einmal, als einer von ihnen - Noah, der Übelste von allen - starb. Da Miriam fortfuhr, von ihren «sieben Söhnen» zu sprechen, obwohl es nur noch sechs waren, fiel es Lucy schwer, Noahs Ableben als einen besonderen Fortschritt zu betrachten. Eine gewisse Beteiligung an dessen Zustandekommen konnte sie allerdings nicht von sich weisen.
Es geschah während der Sommerferien, an einem sonnigen Tag, im Schatten des größten Apfelbaums im Garten. Als Lucy sieben oder acht war, war das der beste Baum zum Klettern. Sie war groß genug, um sich am Stamm hochzuziehen, aber nicht so schwer, dass die dünneren Äste abgebrochen wären. Der Stamm teilte sich wie zwei gespreizte Beine bei einem wackeligen Handstand. Beide Beine waren gleichermaßen besteigbar, aber Lucy bevorzugte das eine, das waagrecht über den Rasen ragte. Sie konnte darauf langrobben und dann ins weiche Gras springen. Lucy hatte keine Angst und stürzte sich gern in die Tiefe. Manchmal verteilte sie, um es schwerer zu machen, alle möglichen Gegenstände - eine Heugabel, ein paar Spaten, scharfkantige Holzplanken - auf dem Rasen, über die sie dann wegspringen musste. Und als auch das keine Herausforderung mehr darzustellen vermochte, fing sie an, rückwärts zu springen. Im Laufe dieser langen Sommer trug sie etliche Schrammen, blaue Flecke und Platzwunden davon, aber sie konnte sich einfach nicht bremsen.
Wenn ihr nicht nach Springen zumute war, kroch Lucy bis zum Ende des Astes, setzte sich in einen Quirl von Zweigen und betrachtete die Welt zu ihren Füßen. Lucy mochte Aussichtspunkte, wenn auch nicht so sehr deswegen, weil sie gern beobachtet hätte, als vielmehr, weil sie sich - an einer sorgfaltig ausgewählten Stelle - ziemlich sicher sein konnte, dass niemand sie beobachtete. Manchmal nahm sie ein Buch mit. Pippi Langstrumpf und Der Geheime Garten mochte sie am liebsten. Sie bewunderte die beherzte Pippi und bemitleidete die arme Mary, die in Indien gelebt hatte und am Ende in Yorkshire gelandet war.
An diesem wolkenlosen Tag las Lucy Pollyanna. Eine Lehrerin hatte ihr das Buch geliehen, aber bislang ärgerte sich Lucy nur darüber. Dieses transusige Mädchen war unfähig, sich zu beschweren, und suchte ständig nach etwas Gutem, wo doch alles eindeutig schlecht lief. Alle paar Seiten unterbrach Lucy ihre Lektüre, um sich in den Zweigen umzusetzen und am Baum zu rütteln, damit sich etwaige locker sitzende Äpfel vielleicht in Fallobst verwandelten.
In dem Moment kehrten die sieben Brüder von einem Angelausflug mit den Pfadfindern zurück. Sie waren entzückt, Lucy in ihrem Krähennest über dem Garten zu erspähen. Auf Noahs Kommando umstellten sie den Apfelbaum und bombardierten ihn mit Steinen, um ihre Schwester herunterzuholen. Lucy wusste, wenn sie sprang, würden sie sie erwischen. Aber wenn sie auf ihrem Ast sitzen blieb, konnte sie ohne weiteres zu Tode gesteinigt werden, wie der heilige Stephanus. Sie hätte eine christliche Märtyrerin werden können, aber das wäre Quatsch gewesen, weil sie schon längst entschieden hatte, dass sie eine Atheistin war. Schrie sie um Hilfe, würde überhaupt nichts passieren, weil Miriam einen Wohltätigkeitsbasar im Rathaus abhielt und George sowieso nie da war. Lucy sah einen Stein im Gras liegen, der schärfer und schwerer war als die, die sie gerade an Armen und Beinen abbekam. Er hatte viele Spitzen und Kanten, sodass man sich schon vom bloßen
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