Jones, Susanna
Meer. Lily hatte mich bei den Schultern gepackt und zwang mich, zwei Schritte rückwärts zu gehen. Dann legte sie mir die Arme um die Taille und warf mich um. Ich hustete und spuckte salziges Wasser ins Meer zurück, sah zu Lily auf. Sie grinste.
«Ätsch, da hast du's», kreischte sie und rannte mir vor der Nase weg, damit ich sie verfolgte. Ihr roter Haarbusch, der jedem Wind trotzte, war dem Meer erlegen. Ihr Gesicht sah ganz verändert aus, weniger albern, älter. Sie ließ im Laufen das Wasser hoch aufspritzen, damit ich ihr nicht näher kommen konnte. Ich versuchte es auch gar nicht. Ich nahm nur Schwung und schlug ein Rad nach dem anderen über den nassen Sand. Sanfte Wellen leckten mir die Hände, die Füße, dann wieder die Hände. Es freute mich riesig, dass ich es nach einer Unterbrechung von fast fünfundzwanzig Jahren noch immer schaffte, die Beine gerade zu halten.
Ich erinnere mich nicht, aufgehört zu haben, aber ich weiß, dass Lily und ich kurze Zeit später Seite an Seite den Strand entlanggingen. Unsere Stimmen waren abgehetzt und atemlos. Gesicht und Hände prickelten mir von einer Kälte, die so scharf brannte, dass sie sich fast wie Wärme anfühlte.
Lily streckte den Arm aus und bremste mich. Ich sah zu der Stelle hin, auf die sie wortlos zeigte. Ein paar Schritte vor uns lag ein Häufchen Kleider auf dem Sand. Natürlich erkannte ich Teijis schlabberige Baumwollhose und weißes T-Shirt sofort. Zuoberst lag, mit einem glatten grauen Stein beschwert, seine Unterhose.
Ich wandte mich wieder zum Meer. Soweit ich in jeder Richtung sehen konnte, fröstelten kleine Wellen im matten Mondlicht. Dann sah ich Teiji, einen gesichtslosen weißen Strich, der sich langsam durch das Wasser bewegte. Er duckte sich zwischen den Wellen und kehrte ihnen in langsamem Wechsel
bald Vorder-, bald Rückseite zu. Er kostete das Gefühl des Wassers auf seiner Haut aus.
Es war ein so schöner Anblick, dass ich am liebsten am Ufer stehen geblieben wäre und Teiji so lange zugeschaut hätte, wie er da draußen blieb, aber schon stand Lily kichernd neben mir.
«Er hat die richtige Idee gehabt.» Ihre Stimme war voll freudiger Erregung. Sie winkte Teiji zu, obwohl er gar nicht zu ihr hinsah, streifte dann ihr Höschen ab und schwenkte es mit einem Juchzer. Mit einer einzigen Bewegung zog sie ihren Reißverschluss hinunter und zog das Kleid aus. Als sie aus dem Stoffhäufchen stieg, erschauderte sie verschämt und wandte sich unschlüssig zum Wasser. Ich verstand ihr Dilemma. Es war zu kalt, um sofort bis zum Hals unterzutauchen, aber sie war sich auf einmal zu deutlich ihrer Nacktheit bewusst, um vorsichtig, nach und nach hineinzugehen. Sie watete ruhig bis zu den Knien hinein. Ihre Haut leuchtete blendendend, fest fluoreszierenden weiß. In meinen Augen sah sie nicht wie eine nackte Frau aus, sondern wie ein Skelett aus der Geisterbahn. Dann kniff sie Mund und Augen zusammen, warf sich nach vorn und kreischte auf, als ihr ganzer Körper ins eisige Wasser schlug. Ich sah zu, wie sie verschwand. Die dunkle See glättete die Stelle, an der sie eben noch gewesen war. Ein paar Meter weiter tauchte sie wieder auf und schwamm mit entschlossenen, gleichmäßigen Zügen hinaus, bis sie sich entspannte und anfing, sich im Wasser zu drehen und zu wenden. Sie entfernte sich weiter vom Ufer. Bald konnte ich nicht mehr erkennen, welche der zwei sich auf und ab bewegenden Gestalten Lily und welche Teiji war.
Ich hatte auch Lust zu schwimmen, aber ich hatte erst mal genug von den Spielchen und verspürte das Bedürfnis, mit dem Wasser und dem Nachthimmel allein zu sein. Ich ging ein Stückchen weiter am Ufer entlang bis zu einer Stelle, wo der Mond die See zu gelben Flicken raffte. Das kalte Wasser
schwappte mir um die Knöchel. Ich ließ meine Sachen auf dem Sand zurück und rannte schultertief hinein. Das Wasser packte meinen ganzen Körper, und ich stieß mich ab und schwamm an spitz aufragenden verwitterten Felsen vorbei hinaus ins offene Meer.
Jeder Zug und Schwimmstoß war ein neuer Schock, da die See wie ein Schwärm scharfzahniger, hungriger Fische an meinem Fleisch nagte. Ich hielt den Kopf hoch und sah aufs Wasser, das vor mir lag, das Japanische Meer. Ich schätzte, dass ich mich in nordwestlicher Richtung von der Insel entfernte. Hörte ich jetzt auf zu schwimmen und ließe meinen durchgefrorenen Körper vom Wasser tragen, wo würde dann meine Reise enden? Blieb ich auf dem unheilbringenden Kurs, konnte ich in
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