Jones, Susanna
zurückgelassen hatte und nach Tokio gekommen war. Aufgrund ihrer so unheilbringenden Lage ist die Insel zum Schutz gegen böse Geister mit zahlreichen Tempeln befestigt. Ich dachte oft über diesen Umstand nach. Vielleicht war auch Frau Katohs unerbittliches Gekicher eine Form der Befestigung gegen das Böse gewesen. Oder vielleicht hatte sie erst bei ihrer Ankunft in Tokio angefangen zu lachen oder als sie Frau Yamamoto und das mit Blauregen bedeckte und mit Musik gefüllte Haus gefunden hatte. Aber für mich war es anders. Von Tokio aus gesehen, liegt die Insel Sado im Nordwesten, und diese Richtung war für Lucy noch unheilvoller. Sie hatte den Tempelbrand gelesen und identifizierte sich mit dem tragischen Mönch, dem geweissagt worden war, es würde ihm Unglück bringen, nach Nordwesten zu reisen, und der es deswegen getan hatte. Ich hatte keine Angst davor, nach Nordwesten zu reisen; wenn überhaupt, so zog mich das Unheil in diese Richtung. Wie der hässliche, stotternde Mizoguchi konnte ich nicht umhin, mich einem Ort mit einer solchen Neigung zum Bösen auf irgendeine Weise verbunden zu fühlen.
Lily erwartete mich im Hauptbahnhof auf dem Bahnsteig. Wir würden mit dem Shinkansen nach Niigata fahren und von da mit der Fähre auf die Insel übersetzen. Ich hatte Teiji von unseren Plänen erzählt, rechnete aber nicht damit, dass er mitkommen würde. Soweit ich wusste, war Teiji nicht ein einziges Mal außerhalb von Tokio gewesen, seitdem er mit vierzehn dort angekommen war und seinen Onkel Soutaro zum ersten Mal gesehen hatte. Was hätte das auch für einen Sinn haben sollen? Durch seine Kamera und seine langen einsamen Nächte auf den Straßen war er dahin gelangt, Tokio als eine grenzenlose Form zu begreifen, eine Stimme, die ihn rief und dann entfloh und sich verbarg. Für Teiji war jede Straße, jede Brücke, jeder Fluss eine weitere Windung der Spirale, der er immer weiter und weiter auswärts zu folgen hatte, ohne je zu ihrem Ende zu finden. Warum hätte er diese Wahrheit auf so lächerliche Weise widerlegen sollen, dass er in einen Zug stieg, zur physischen Grenze der Stadt und über sie hinaus fuhr und damit die klare Linie sah, wo Tokio endet und das Land beginnt? Und natürlich dachte ich, er würde keine Lust haben, mit mir zusammen zu sein. Ich war zu eigenartig.
Irgendwo stimmte Lucys These nicht, denn zwei Minuten nachdem ich Lily gefunden und zum richtigen Abschnitt des Bahnsteigs geführt hatte, sah ich Teiji. Er war gerade durch die Fahrscheinkontrolle gekommen und winkte mir zu. Ich machte vor Freude einen Luftsprung. Lily drückte mir den Arm.
Als er vor mir stand, umarmte ich ihn. Teiji zu umarmen war eine Sache für sich, weil er nicht auf die übliche Weise reagierte. Er umarmte nicht zurück, ebenso wenig stand er aber auch unbeteiligt herum, als würde er von einer alten Tante umarmt. Es war irgendein Mittelding, aus dem ich nicht schlau wurde. Ich legte die Arme um ihn, drückte nur ganz leicht - gerade genug, um den unverwechselbaren Fingerabdruck seiner Wärme, seiner Muskeln zu spüren - und ließ dann wieder los, um nicht zu riskieren, dass er sich unbehaglich fühlte.
«Ich hätte nie gedacht, dass du mitkommen würdest», sagte ich.
«Ich vermisse das Meer.» Er atmete tief ein, als könnte er es schon riechen. «Ich habe den Ozean früher geliebt, aber ich komm da überhaupt nicht mehr hin. Und ich wollte nicht, dass du ohne mich fährst.»
Hier musste ich lächeln, und ich glaube, seine Worte wiederholten sich in mir den ganzen Weg bis nach Sado.
Die Reise führte uns fort von der industriellen Schlagader Japans und auf die grünen Reisfelder und Hügel des offenen Landes zu. Ich zwang Lily, etwas Japanisch zu lernen: Ich zeigte auf Dinge, an denen wir vorbeifuhren, und ließ sie deren japanische Namen wiederholen. Anfangs wollte sie nicht.
«Das ist zu schwer. Sieh mich doch an. Ich hab selbst in Französisch nur Grundlagenwissen.»
«Macht nichts, das hier ist Japanisch, und du musst heute auch keinen Abschluss machen. Schau da drüben hin. Siehst du? Das ist ein mori.»
«Wo, was?»
«Raten», sagte Teiji. Er saß auf der anderen Seite des Mittelgangs. Er wandte sich zu uns herüber, um sich an der Unterrichtsstunde zu beteiligen, und schlug die Beine übereinander. Seine Hose hing schlaff herunter, sodass es den Anschein hatte, als wären überhaupt keine Glieder darin, nur zusammengeknüllte Baumwolle.
Lily errötete. Vor mir störte es sie nicht, dass sie
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