Jorina – Die Jade-Hexe
Lumpen-Scharade, zu der ihr sicher die Äbtissin geraten hatte!
Wie er sie hasste, diese edlen Damen, die ihn mit einem schlichten Blick wieder auf den Status eines gewöhnlichen Bauern reduzierten, der sich gegenüber ihresgleichen zu viel herausnahm. Auch diese hier zeigte ihm ihre Verachtung unverhüllt, obwohl ihr klar zu sein schien, dass sie in der Falle steckte.
»Wo hast du den Stern von Armor versteckt?« fragte er drohend und riss sie an den Haaren so nahe zu sich, dass sie den Moderhauch in die Nase bekam, der seinem kostbar mit Pelz ausgeschlagenen Wams entstieg.
Unwillkürlich rümpfte sie die Nase. In dieser Burg gab es offensichtlich keine pflichtbewusste Haushofmeisterin, die sich darum kümmerte, dass in den Truhen des Herrn zwischen die Gewänder getrocknete Kräuter gelegt wurden. Das erklärte auch die fehlende Ordnung dieses Gemaches. Der unpassende Gedanke verschaffte Jorina die Distanz, sich wieder in die Hand zu bekommen. Sie leistete mit steifem Hals Widerstand und versuchte trotz der Erschöpfung, die ihr Denken beeinträchtigte, die richtige Antwort zu finden.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht!« protestierte sie.
Er ließ sie so plötzlich los, dass sie hilflos vom Stuhl und auf die Knie stürzte. Während sie sich die wilden Haare aus dem Gesicht strich und sich mühsam aufzurappeln versuchte, betrachtete er sie, als sei sie nicht mehr als ein lästiges Insekt, das aus dem Stroh herausgekrochen war, um ihn zu ärgern.
»Hölle und Verdammnis«, knurrte er wütend. »Ich habe dieses frömmelnde Weib unterschätzt, das dich und die anderen unter seinen Schutz genommen hat, aber ich pflege meine Fehler nur einmal zu machen. Ich will die Sterne von Armor, und ich werde sie bekommen, hast du mich verstanden?«
»Die Sterne von Armor«, wiederholte Jorina verwirrt, um Zeit zu gewinnen.
Es klang vertraut und weckte eine ferne Erinnerung an ihre Kindheit. Wann hatte sie schon einmal von diesen Sternen gehört? Sie glaubte, die Stimme ihrer Mutter zu vernehmen, wie sie Legenden und Heiligengeschichten erzählte, um das kleine Mädchen zu unterhalten, das sich an langen Herbst- und Winterabenden in der bescheidenen Hütte auf der Lichtung so langweilte.
»Die Sterne von Armor zieren das Kreuz von Ys«, wisperte sie erschauernd.
»So ist es, König Gradlons sagenhaftes Kreuz!« bestätigte der Herzog und baute sich vor ihr auf. »Denke nicht, dass du mich zum Narren halten kannst. Ich weiß, dass diese alte Betschwester das Kreuz zerstört hat. Sie brach die Steine heraus und hat jeder Novizin einen davon anvertraut. Weiß der Teufel, was sie auf diese verdammte Idee gebracht hat!«
Wie konnte er das wissen? Jorinas fassungsloses Erstaunen malte sich auf ihren Zügen, und es bereitete ihm sichtliches Vergnügen, ihr in allen erschreckenden Einzelheiten die nicht laut ausgesprochene Frage zu beantworten.
»Die Alte hat es mir selbst gesagt. Glaub es mir, es gibt mehr Möglichkeiten, einen Menschen zum Reden zu bringen, als Frösche in diesem Burggraben dort unten!«
Jorina erschauerte und presste die Handflächen gegeneinander, als könne sie so Halt finden. Hinter dem violett schimmernden Mal an ihrer Schläfe pochte der Schmerz, und sie hörte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf widerhallen: »Wer das Kreuz von Ys besitzt, wird über eine ungeteilte, friedliche Bretagne herrschen!«
In einer Zeit, da die Menschen ihrer Heimat im Kampf zwischen Karl von Blois und Jean de Montfort hin- und hergerissen wurden und der elende Erbfolgekrieg Not und Schrecken über alle brachte, hatte diese Behauptung wie ein Märchen geklungen. Wo Hungersnöte und Verzweiflung regierten, wucherten die Legenden im Volk. Aber war es wirklich nur eine Legende? Hatte sie nicht selbst manchmal das Gefühl gehabt, der grüne Stein verströme lebendige Energie?
»Ich werde dieses Kreuz in meinen Besitz bringen!« brüllte der Herzog so unbeherrscht, dass Jorina vor ihm zurückfuhr und sich hinter der Platte des Tisches in Sicherheit brachte.
Gleichzeitig begriff sie jedoch, wie kindisch ihr Verhalten auf ihn wirken musste. Sie befand sich in seiner Macht, und nicht nur sie allein. Aber wie es schien, besaß sie auch einen Gegenstand, den er vielleicht sogar für noch wichtiger hielt als seine Rache an Raoul de Nadier. Es lag an ihr, das Spiel zu wagen.
»Ich kenne das Kreuz von Ys nur aus den Sagen, die im Land erzählt werden«, antwortete sie vorsichtig. »Dieses Kreuz ist nicht mehr als ein
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