Jorina – Die Jade-Hexe
energisch ab. »Ich will lediglich, dass Jorina ihrem Stand gemäß gekleidet ist. Nun hört auf zu zetern, lasst alles abschneiden und schickt einen Lehrling damit in die Nähstube, dann befreien wir Euch von unserer Gegenwart und beginnen mit der Arbeit. Es wird ohnehin Zeit dafür.«
Auch wenn sich Jorina inzwischen halbwegs an die herrschsüchtige Art gewöhnt hatte, mit der Dame Rose ihren brummigen Ehemann behandelte, tat ihr der Tuchhändler dieses Mal fast ein wenig leid.
»Es ist zu viel«, versuchte sie bei ihrer Gönnerin Einspruch zu erheben. »Kein Mensch braucht so viele verschiedene Kleider. Außerdem sind die Sachen, die ich trage, doch wunderschön!«
»Tststs ...«, machte die Hausherrin erneut. »Altes Zeug, das in aller Eile für dich geändert wurde und das wirklich nicht einer ehrbaren Jungfer aus gutem Hause angemessen ist.«
»Ehrbare Jungfer ...«, schnaubte Maître Joseph, doch er protestierte nur noch der Form halber. Auch sein griesgrämiges Gesicht verzog sich inzwischen in freundlichere Falten, wenn sein Blick auf Jorina fiel. Außerdem gab es weder an ihrem Benehmen noch an ihrer Erscheinung etwas auszusetzen. Trotzdem weigerte er sich, seiner Gemahlin recht zu geben. Sie war ohnehin schon rechthaberisch genug.
»Überlasse nur mir zu entscheiden, was in diesem Fall das Richtige ist!« befahl sie nun, und Jorina tat, was alle im Hause des Tuchhändlers machten: Sie gehorchte.
Dame Rose beherrschte nämlich nicht nur ihren Gemahl, sondern das ganze wohlhabende Bürgerhaus an der Rue St. Sauveur. Sie rauschte in ihren dunklen, pelzverzierten Roben und den übergroßen Hauben wie ein ständiger Wirbelwind vom Lager bis unter das Dach, sie hatte ihre Augen überall, ihre Nase in jedem Topf, ihre Ohren bei jedem Gespräch.
Mit dem Instinkt des geborenen Feldherrn regierte sie über die ihr anvertrauten Leben, und aus Gründen, die Jorina nicht verstand, schien ihre Person an erster Stelle all der Besorgnis zu stehen. Trotzdem wagte Jorina in der Nähstube noch einen weiteren Einspruch.
»Ihr wollt mich meinem Stand gemäß gekleidet sehen, aber ...« Sie schlug die Augen nieder. »Vielleicht habe ich gar keinen ehrbaren Stand!«
»Was willst du damit sagen, Kind?« Dame Rose ließ das geknotete Band sinken, mit dem sie die Stoffe für die Schnitte ausmaß. »Erinnerst du dich wieder an dein früheres Leben?«
»Erinnern kann man das nicht nennen«, seufzte Jorina und strich unwillkürlich über die weite dunkelblaue Tunika, die am Saum so gefällig mit glänzenden Bändern in einem helleren Blauton besetzt war.
Hellblau war auch das feine Untergewand aus dünner Wolle, das sie darunter über einem warmen Leinenhemd trug. Ihre straff geflochtenen Zöpfe waren mit Nadeln auf dem Kopf festgesteckt, und ein hauchdünner weißer Schleier bedeckte ihren Scheitel, wie es sich gehörte. Die Farben schmeichelten ihrer zarten Haut und ließen die hellen Augen noch blauer als sonst leuchten.
Dame Rose besaß einen Handspiegel, den sie – in kostbare Tücher eingeschlagen – in einer eigenen Vitrine aufbewahrte. Er hatte Jorina zum ersten Male das verblüffend klare, glänzende Bild der eigenen Züge geschenkt. Eigenartig fand sie indes, dass sie stets das Gefühl hatte, es sei nicht sie selbst, die ihr da entgegensah. Selbst jetzt noch, nachdem sie sich doch an diesen Anblick gewöhnt haben sollte und ihr Dame Rose stets versicherte, dass der Spiegel nichts anderes als die Wirklichkeit zeigte. Irgendwo in ihrem Kopf existierte ein völlig anderes Bild, das sie von sich hatte.
Die Hausherrin warf ihr einen jener schnellen, prüfenden Blicke zu, die sie binnen eines Herzschlages darüber in Kenntnis setzten, was der andere dachte. Jorinas Trauer gefiel ihr nicht.
»Du machst dir umsonst das Herz schwer, Kind!« sagte sie und hob das Dreieck ihrer seltsamen Brauen, um diesen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich habe dich beobachtet, seit der Himmel unser Schicksal verbunden hat. Es gibt nichts an dir, das nicht rein, ehrlich und gottesfürchtig wäre. Warum zermarterst du dir deinen Kopf? Ich für meinen Teil bin dem Herrn dankbar, dass er mir eine neue Tochter geschenkt hat, für die ich sorgen darf. Es gibt meinem Leben wieder Sinn!«
Jorina hatte inzwischen erfahren, dass das einzige Kind von Dame Rose im vergangenen Sommer bei der Geburt eines kleinen Jungen gestorben war. Halb Rennes hatte mit ihr um die reizende junge Frau getrauert, aber niemand hatte der verzweifelten Dame helfen
Weitere Kostenlose Bücher