Jorina – Die Jade-Hexe
Auray getötet wurde. Die Schlacht ist geschlagen, aber dieses Verbrechen muss noch gesühnt werden!«
»Wo ... wo befindet sich Messire de Nadier?« flüsterte Jorina heiser.
»Wo schon? Im tiefsten Verlies der Burg«, schnaubte Dame Rose. »Dort wird er auch bleiben, bis der Henker seinem Leben ein Ende setzt.«
»Wie schrecklich ...«, murmelte Jorina, aber das vernahm ihre Gönnerin im Gedrängel schon nicht mehr.
Obwohl sie so klein war, gelang es Dame Rose, für sich und die Ihren eine Bresche durch das Menschengewimmel zu schlagen. Während sie in ihrer üblichen, energischen Art die Rue Saint Sauveur nach Hause eilte, versuchte Jorina ihre Fassung halbwegs wiederzufinden.
Die grünen Augen ihrer Träume hatten ein Gesicht und einen Namen bekommen. Raoul de Nadier. Ein kantiges Antlitz mit den zärtlichsten Lippen der Welt. Eine Gestalt, von Ketten gefesselt, aber dennoch in unbeugsamem Stolz dem machtgierigen Söldnerführer trotzend, der am Ende durch doppelten Verrat erneut triumphierte.
Sie sah auch Paskal Cocherel wieder vor sich. Gleich einer Spinne saß er in St. Cado und wartete auf die letzte Nachricht. Darauf, dass der Kopf endlich fiel, den er so geschickt auf den Block des Henkers manövriert hatte, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Und nicht zuletzt auch wegen einer kleinlichen Rache, an der die schlangengleiche Suzelin ihren eigenen Anteil besaß, obwohl Jorina dies nicht ahnte.
Paskal Cocherel hatte den Tod des Herrn von Blois verschuldet, weil jener ihm beim Kampf um die Macht in der Bretagne noch mehr im Weg gewesen wäre als der nüchterne, ehrgeizige Jean de Montfort. Ein Ritter, den das Volk wie einen Heiligen verehrt, bildet ein Problem, das einer besonderen Lösung bedurfte.
Mit einem Schlag fand sich Jorina wieder in jenem Spiel zurecht, für das ihr Mutter Elissa in Sainte Anne einen Trumpf besonderer Art übergeben hatte. Den Jade-Stern aus dem Kreuz von Ys! Ob er noch in seinem Versteck bei der Quelle lag? Sicher. Wer sollte ihn dort gesucht oder gefunden haben? Niemand außer ihr wusste, dass er unter dem schwarzen Felsstern ruhte.
»Ins Haus, ins Haus!« kommandierte Dame Rose schwungvoll und schubste ihre Dienerin Balbine als auch ihren Gemahl und Jorina über die Schwelle. »Welch ein grässlicher Wind, er fährt einem durch und durch. Balbine, besorge uns in der Küche einen Krug Gewürzwein, damit wir uns ein wenig aufwärmen. Maître Joseph, habt Ihr Gelegenheit gehabt, mit dem Ratsherrn wegen des Grundstückes am Fluss zu sprechen? Gütiger Himmel, Jorina, du siehst nun wirklich aus wie ein frisch gebleichtes Leinentuch. Du wirst dich doch nicht von Neuem erkältet haben? Das wäre ja schrecklich.«
Weder Balbine noch Maître Joseph oder Jorina machten auch nur den Versuch, diesen Redeschwall mit einer Antwort zu stören. Der Hausherr zog sich brummend in das kleine Straßenkabinett zurück, in dem er seine Bücher führte. Jorina blieb vor dem flackernden Kaminfeuer stehen und starrte abwesend in die Flammen. Balbine schnaufte mit dem gewünschten heißen Getränk in die gute Stube.
Erst in diesem Moment fiel Dame Rose erneut die unnatürliche starre Haltung ihres Schützlings auf. Sie trat zu dem Mädchen ans Feuer und legte beim Versuch, in ihre Augen zu blicken, den Kopf in den Nacken.
»Was beschäftigt dich, Kind? Immer noch dieses Geschwätz um den Ritter, den man nach Dreikönig hinrichten wird? Du hast ein gutes Herz! Er hat seine Strafe verdient!«
Sie erwartete keine Antwort. Vielleicht blieb ihr deswegen der kleine Mund sprachlos offen stehen, als Jorina hauchte: »Ich kenne diesen Ritter! Ich weiß, dass er unschuldig ist!«
»Du kennst ...« Dame Roses Brauen hoben sich. Verblüfft sah sie das Mädchen an. »Ich bitte dich, woher solltest ausgerechnet du ...«
»Ich erinnere mich wieder an alles«, wisperte Jorina und rang nervös die Hände. »Ich weiß, was geschehen ist, ehe Ihr mich fandet.«
Die emsige Hausherrin reagierte mit Verblüffung und Neugier auf diese Nachricht. Sie ließ sich in dem üppig gepolsterten Stuhl vor dem Kaminfeuer nieder und deutete auf das Taburett neben dieser Sitzgelegenheit.
»Setz dich, ich nehme an, es dauert länger«, forderte sie knapp. »War es das Gespräch der beiden Edeldamen, das dir den Weg gewiesen hat?«
Inzwischen hatte es sich Jorina bereits abgewöhnt, über den flinken Verstand der betriebsamen Tuchhändlerin zu staunen. Es war nur logisch, dass sie ihre Schlüsse zog und zur richtigen
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