Jorina – Die Jade-Hexe
und messerscharf wirkten, dass sie ihr zwar Reiz, aber keine echte Anmut zugestand. Eher die kühle Eleganz einer gefährlichen Schlange.
»Denkt Euch, ich habe sogar die Heirat mit ihm erwogen«, fuhr sie danach fort. »Wie schrecklich es doch wäre, heute an einen solchen Mann gebunden zu sein. Im Grunde könnte ich mich nur noch in ein Kloster zurückziehen, und das würde mich nun wirklich von Herzen langweilen ... Alles nur wegen eines ehrgeizigen Schurken!«
»Ich bitte Euch, was den Herzog von St. Cado betrifft, mögt Ihr mit dem Schurken ja recht haben, aber der arme Raoul de Nadier ...«
»Nennt mir seinen Namen nicht! Natürlich ist er ein Schurke! Oder wie bezeichnet Ihr es, meine liebe Freundin, wenn jemand seinen Herrn verrät und für den Tod Hunderter tapferer Männer verantwortlich ist? Wisst Ihr, wie viel Tränen seinetwegen geweint wurden?«
Die ältere Edeldame seufzte bedrückt. »Trotzdem kann ich es nicht glauben, ehrlich gesagt. Ausgerechnet Raoul de Nadier! Ich kenne ihn, seit er als Page am Hofe des Königs seinen Dienst tat. Ein so stolzer, edelmütiger und aufrichtiger Knabe, der zu einem vorbildlichen Ritter wurde. Wie soll er plötzlich über Nacht seinen Charakter dermaßen geändert haben?«
Jorina sah, dass die Blonde die feine Nase rümpfte, und sie verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, ihr mit allen zehn Fingernägeln durch das hochmütige, gelassene Antlitz zu fahren. Sie hasste diese arrogante Person mit einem Mal so intensiv, dass sie sich aus Furcht vor den eigenen, wilden Gefühlen beschämt bekreuzigte.
»Vielleicht hat er seinen Charakter ja gar nicht geändert«, zwitscherte die Junge jetzt. »Vielleicht hat er die dunklen Seiten seiner Persönlichkeit immer nur sehr geschickt verborgen. Ich vermute, er hat sich von Jean de Montfort Ehre und Rum für diese Tat erhofft! Vielleicht sogar einen Titel!«
»Nun, diese Hoffnung ist zerplatzt. Man sagt, er liegt seit Wochen im Kerker, und die Tatsache, dass er überhaupt noch am Leben ist, sei nur dem Umstand zu verdanken, dass Seine Gnaden die Advents- und Weihnachtszeit nicht durch eine Hinrichtung stören möchte. Bisher hat niemand für ihn um Gnade gebeten.«
»Warum sollte das ein vernünftiger Mensch tun? Das Urteil ist bereits gesprochen«, sagte die junge Edeldame und vergrub die weißen Hände tiefer in den Pelz. »Er hat keine Chance mehr. Es wird ein großes Spektakel geben, wenn dieser arrogante Kopf unter dem Beil des Henkers fällt.«
»Armer Raoul«, seufzte die ältere Edeldame erneut. »Er tut mir in der Seele leid. Sagt, was Ihr wollt, Dame Suzelin, aber in dieser Sache geht nicht alles mit rechten Dingen zu, auch wenn es keinen Beweis dafür gibt. Die schönsten Männeraugen der Bretagne, habt Ihr das nicht einmal selbst gesagt? Es ist eine Schande, diese grünen Augen so brutal zu schließen, und ich glaube nicht, dass Raoul de Nadier wirklich der Verräter ist, für den ihn alle halten, da könnt Ihr mir erzählen, was Ihr wollt!«
In diesem Moment kam Leben in die Menschenmasse, und die beiden Edeldamen schoben sich endgültig an Jorina vorbei dem Ausgang entgegen. Ihre Stimmen verhallten, aber Jorina beachtete es nicht. Sie starrte blicklos auf ihre gefalteten Hände.
»Jorina! Kind, so komm doch! Was ist los mit dir? Du kannst nicht hier stehen bleiben!«
Dame Rose stupste das reglose Mädchen an und musterte besorgt die alabasterbleichen, versteinerten Züge. Jorina sah aus, als hätte sie ein Gespenst erblickt.
»Jorina!«
»Oh ... entschuldigt ...« Jorina strich sich mit eisigen Fingern über die brennende Stirn, und plötzlich erschienen zwei rote Flecken auf ihren Wangen. »Habt Ihr ... habt Ihr vernommen, worüber diese beiden Edeldamen gesprochen haben?«
»Es war nicht zu überhören.« Dame Rose nickte. »Die Jüngere ist mir unbekannt, aber die Ältere war Dame Lucille de Tréboule. Sie steht in hohen Ehren bei Hofe und zählt zu den besten Kunden von Maître Joseph. Sie scheint diesen Ritter sehr zu schätzen, den der Herzog zum Tode verurteilt hat.«
»Ihr ... Ihr wisst davon ...« Jorina hatte mit jeder einzelnen Silbe Mühe.
»Die ganze Stadt weiß davon«, erwiderte Dame Rose verwundert, dass Jorina sich so erregte. »Und Dame Tréboule ist vermutlich die einzige von allen, die ein gutes Wort für diesen Verräter einlegt. Er hat den Tod des edlen Herrn von Blois auf sein Gewissen geladen. Sogar der Herzog hat um diesen aufrechten und edlen Ritter getrauert, der vor
Weitere Kostenlose Bücher