Josef und Paul - Eine Landliebe nach Stundenplan (German Edition)
ungeheurer Kraft in meinen Darm. Dann wurde ich ohnmächtig.
5
Natürlich hat er mich nicht umgebracht. Sonst könnte ich das jetzt gar nicht schreiben. Aber er hat mir Schmerzen zugefügt, an die mich bis an mein Lebensende erinnern werde. Ich lebe an einem Ort, der so etwas wie Homosexualität oder gar sexuelle Gewalt weitgehend ignoriert. Ich habe nicht die Polizei verständigt, habe meinen Mund gehalten und bin Nik – sofern es möglich war – aus dem Weg gegangen. Wir haben nie wieder miteinander gesprochen. Im Jahreszeugnis der ersten Klasse stand neben dem Wort Wirtschaftskunde eine Eins. Ich weiß nicht, warum Sepp diese Vergewaltigung zugelassen hat. Ich habe seit jenem Dienstag kein privates Wort mehr mit ihm gewechselt. Heute bin ich 22 und habe einen sehr lieben Freund namens Richard, den ich bei einem Zeltfest kennen gelernt hatte. Wir teilen nicht nur die Frühstücksflocken miteinander, sondern auch das Bett. Ich helfe fleißig am Hof meiner Eltern mit, die Liebe zu Richard bleibt natürlich mein kleines Geheimnis. An Nik denke ich fast gar nicht mehr. Er war ein Arschloch, nichts weiter.
Aber Sepp, an Sepp denke ich sehr oft. Ihn werde ich wohl nie vergessen.
II
Teufelsnacht
1
2002
Ich war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal in Wien. Es fiel mir schwer, die Arbeit, den Bauernhof einfach so zurückzulassen. Doch ich tat es aus einem guten Grund. Nein, es war kein Urlaub. Ich war für zwei Tage in der Hauptstadt Österreichs, um an einem wichtigen Kurs über Massentierhaltung teilzunehmen, der am WIFI in Graz gestrichen worden war. Ich war in einer Jugendherberge in der Nähe des Südbahnhofs untergebracht. Es war der 30. Oktober 2002, der Tag vor Halloween. Der Referent, der von allerlei Methoden über Schweinezucht berichtete, hatte eine langweilige Stimme. Das riesige Gebäude stand in der Prinz-Eugen-Allee und am Abend war ich einfach nur müde. Ich ging in ein kleines Gasthaus neben einem großen Hotel, um dort mein Abendessen einzunehmen. Der Kellner war sehr freundlich und schon nach wenigen Minuten hatte ich mein Naturschnitzel mit Kürbiskernen vor mir, das ich mit großem Genuss verzehrte.
Ich war Single, schon seit Monaten. Richard war in mein Leben getreten, hatte es eine Zeit lang versüßt und ist dann ebenso schnell wieder verschwunden. Er wäre nie der geeignete Lebenspartner für mich gewesen. Seine Interessen galten Partys, Computerspielen und Skifahren. Ich hatte ihm nur einen einfachen Bauernhof zu bieten, ohne Aussicht auf ausgedehnte Urlaube, ohne nächtliche Saufgelage oder Exzesse. Mein Leben war nicht so aufregend wie eine Nacht im Univiertel. Ich war Miteigentümer des Hofes inklusive all der Tiere, den Gerätschaften und Werkzeugen, aber auch Verpflichtungen und harter Arbeit. Ich stand jeden Tag früh auf, um die Kühe zu melken. Das Füttern der Schweine hatten meine Eltern für sich beansprucht. Es war ein unspektakuläres Leben, aber ich vermisste Richard natürlich.
Sogar jetzt dachte ich an die Getreideernte zuhause. Es hatte letzte Woche Probleme mit dem Mähdrescher gegeben. Durch den vielen Regen war es zu einer zusätzlichen Verzögerung gekommen.
Hier war ich also, in Wien. Ich wollte noch nicht zu Bett gehen, wollte noch für ein paar Momente die Kraft der Großstadt genießen. Ich betrat ein kleines Cafe, um mir eine heiße Schokolade zu genehmigen. Ich staunte nicht schlecht, als ich in der Menge ein bekanntes Gesicht sah. Einer der Gäste war Josef, ehemaliger Lehrer von mir, ehemaliger Liebhaber, oder sollte ich besser ehemaliger Verbrecher sagen?
Das warme Gefühl in meiner Magengegend wurde zur unerträglichen Hitze. Ich schnappte nach Luft, schaute ein zweites Mal hin. Ja, es war Sepp. Dieses Gesicht würde ich unter tausend anderen wieder erkennen. Automatisch erinnerte ich mich an die Szene mit Nik, die unsere Freundschaft noch am selben Tag beendete. Warum bin ich damals nicht zur Polizei gegangen? Ich hätte dadurch vermutlich den Ruf meiner Familie ruiniert. Ich war noch jung und dumm und hatte jede Menge Zeit, um die Vergewaltigung zu vergessen. Aber habe ich sie vergessen? Nein. Hätte ich seine berufliche Laufbahn zerstören können? Ja.
Sepp war in Begleitung von einer Schülergruppe. Er hockte an einem runden Tisch, gemeinsam mit ein paar Jungs, die ungefähr 16 Jahre alt waren. Er schaute in meine Richtung. Ich wich seinem Blick nicht aus. Ich suchte mir einen Einzeltisch aus und nahm
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