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Joseph Anton

Joseph Anton

Titel: Joseph Anton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Rushdie
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machen konnte; beging man allerdings nur zwei der drei, mochte einem noch verziehen werden. Man durfte kein Ausländer, nicht klug und nicht schlecht in Sport sein. Kluge Ausländer, die in Rugby dennoch eine gute Zeit verlebten, waren meist elegante Kricketspieler; oder man war, wie im Fall eines seiner Mitschüler, des Pakistani Zia Mahmood, im Kartenspiel so gut, dass man einmal zu einem der weltbesten Bridgespieler werden sollte. Wer in Sport nicht gut war, musste darauf achten, nicht allzu klug zu sein und, wenn möglich, nicht allzu ausländisch, was der schlimmste aller Fehler war.
    Er machte sich aller drei Fehler schuldig. Er war Ausländer, klug und unsportlich, weshalb er eine überwiegend unglückliche Schulzeit verbrachte, obwohl er gute Noten bekam und Rugby mit der Gewissheit verließ, ausgezeichneten Unterricht genossen zu haben – außerdem mit der erhebenden Erinnerung an großartige Lehrer, die einem, hat man Glück, für den Rest des Lebens bleibt. Da war P. G. Lewis, natürlich nur ›Pig‹ genannt, der in ihm die Liebe zur französischen Sprache weckte, so dass er von einem der Klassenletzten zu einem der Klassenbesten aufstieg, und dann waren da seine Geschichtslehrer, J. B. Hope-Simpson, alias ›Hope Stimulus‹, und J. W. ›Gut‹ Hele, dank deren sachkundigem Unterricht er ein kleines Stipendium für Geschichte an der alten Alma Mater seines Vaters gewann, für das King’s College in Cambridge, wo er E. M. Forster kennenlernen und ersten Sex erleben sollte, wenn auch nicht zur selben Zeit. (Weniger schätzte er, dass ›Hope Stimulus‹ ihn auch mit Tolkiens Herrn der Ringe bekannt machte, einem Werk, das sich in seinem Verstand wie eine Krankheit ausbreitete, eine Infektion, von der er nie wieder vollständig genas.) Sein alter Englischlehrer Geoffrey Helliwell trat am Tag nach der Verkündigung der Fatwa im britischen Fernsehen auf, und man konnte ihn sehen, wie er bekümmert das Haupt schüttelte und im liebenswerten, unbestimmten, leicht verblödeten Ton fragte: »Wer hätte gedacht, dass so ein netter, stiller Junge mal solchen Ärger macht?«
    Niemand hatte ihn gezwungen, auf ein englisches Internat zu gehen. Negin war dagegen gewesen, ihren einzigen Jungen über Meere und Kontinente zu schicken. Anis hatte ihm die Gelegenheit geboten und ihn ermuntert, die Aufnahmeprüfung abzulegen, doch selbst nachdem er sie mit Auszeichnung bestanden und einen Platz in Rugby zugesprochen bekommen hatte, blieb es allein seine Entscheidung, ob er ging oder blieb. Später sollte es ihn wundern, welche Wahl der dreizehnjährige Junge traf, ein Junge, der Liebling seiner Eltern, der in seiner Stadt verwurzelt war, gute Freunde hatte und gern zur Schule ging (an der es für ihn nur ein einziges kleines Problem gab, das mit der Sprache Marathi zusammenhing). Warum beschloss der Junge, dies hinter sich zu lassen und um die halbe Welt ins Unbekannte zu reisen, weit fort von allen, die ihn liebten, von allem, was er kannte? War womöglich die Literatur schuld (schließlich war er zweifelsohne ein ziemlicher Bücherwurm)? In diesem Falle gehörten zu den Schuldigen gewiss die geliebten Jeeves und Bertie aus den Geschichten von P. G. Woodhouse, womöglich auch dessen Earl of Emsworth mit seiner prächtigen Zuchtsau, der ›Kaiserin von Blandings‹. Vielleicht hatte ihn zu diesem Schritt auch die zweifelhafte Faszination für die Welt der Agatha Christie bewegt, obwohl Christies Miss Marple gewiss im mörderischsten Dorf Englands lebte, im tödlichen St. Mary Mead? Dann war da noch Arthur Ransomes Buchreihe, die mit Der Kampf um die Insel begann und von Kindern erzählte, die sich auf Booten im Lake District herumtrieben, und viel, viel schlimmer noch, die grässlichen Eskapaden von Billy Bunter, der »Eule der Untersekunda«, diesem dicken Jungen in Frank Richards’ Grayfriars School, in dessen Klasse es mindestens einen Inder gab, Hurree Jamset Ram Singh, jenen »dunkelhäutigen Nabob von Bhanipur«, der ein bizarres, pompöses, syntaktisch verzerrtes Englisch sprach (›die Verzerrtheitung war phänomenal‹, hätte der dunkelhäutige Nabob vermutlich gesagt). Mit anderen Worten: War es die Entscheidung eines Kindes, in ein imaginäres England zu reisen, das allein in Büchern existierte? Oder war sein Entschluss vielmehr ein Hinweis darauf, dass unter der Oberfläche des ›netten, stillen Jungen‹ ein fremdes Wesen lauerte, ein ungewöhnlich abenteuerlustiger Bursche, der genügend Chuzpe besaß,

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