Joseph Anton
grässlich: schlechte Aufnahmen, kümmerlich beleuchtet, die diversen Stadien des Entkleidens alle ein wenig töricht, nicht im mindesten erotisch, obwohl die Frau offensichtlich schön war. Er schrieb nie zurück, nicht einmal, um sie zu überreden, sie möge ihm nicht länger schreiben, da er wusste, das wäre ein Fehler. Die Leidenschaft, mit der die Briefeschreiberin auf ihrer Liebe insistierte, ließ ihn um sie fürchten. Geisteskrankheiten galten für viele Inder immer noch als ein Makel. Familien leugneten, dass eines ihrer Mitglieder an solch einem Gebrechen litt. Dass Nalini Mehtas Briefe weiterhin eintrafen, dass ihre Zahl sogar noch zunahm, deutete darauf hin, dass sie nicht die liebevolle Fürsorge erhielt, die sie brauchte.
Seine Lage regte sie schrecklich auf. Sie ›wusste‹, dass es ihm an jener liebevollen Fürsorge fehlte, die ›er‹ brauchte. Sobald sie den Zeitungen entnommen hatte, dass er mit seiner Frau nicht länger zusammen war, flehte sie ihn an, er möge ihr gestatten, sie zu ersetzen. Sie wollte zu ihm kommen und für sein Wohlbefinden sorgen. Sie würde alles für ihn tun, zu ihm stehen, sich um ihn kümmern, ihn mit ihrer Liebe eindecken. Wie könne er dem nicht zustimmen angesichts all dessen, was sie füreinander bedeuteten, angesichts all dessen, was sie füreinander fühlten? Er müsse nach ihr schicken lassen. »Ruf mich jetzt«, schrieb sie, »und ich komme sofort.«
Sie erzählte ihm, sie habe Englische Literatur am Lady Shri Ram College in Delhi studiert, und er erinnerte sich, dass seine Freundin Maria, eine Schriftstellerin aus Goa, dort unterrichtet hatte; also rief er sie an und fragte, ob sie den Namen kannte. »Nalini«, antwortete sie betrübt. »Natürlich. Eine meine besten Studentinnen, psychisch aber völlig labil.« Und er hatte recht gehabt: Ihre Familie weigerte sich zuzugeben, dass das Mädchen krank war und angemessene medizinische Hilfe brauchte. »Ich weiß nicht, was man da tun kann«, sagte Maria.
Dann änderte sich der Ton der Briefe. Ich komme, schrieb sie, ich komme nach England, damit ich bei Dir sein kann. Sie hatte eine Engländerin ihres Alters in Delhi kennengelernt und wurde eingeladen, bei deren pensionierten Eltern in Surrey zu wohnen. Sie hatte ihr Ticket. Sie flog morgen , dann heute . Sie war angekommen. Einige Tage später betrat sie unangemeldet die Londoner Agentur und stürmte in Gillon Aitkins Büro. Gillon erzählte ihm hinterher: »Nun, sie ist sehr attraktiv, mein Lieber, und sie war ziemlich herausgeputzt. Sie behauptete, eine Freundin von dir zu sein, also habe ich sie natürlich hereingebeten.« Sie bestand darauf, dass man ihr seine Adresse und Telefonnummer gab, da er auf sie wartete, und da ihre Ange legenheit ziemlich dringend sei, müsse sie jetzt sofort zu ihm. Noch am selben Tag, wenn möglich. Gillon spürte, dass irgendwas nicht stimmte. Er sagte Nalini, durchaus sehr freundlich, er würde gern eine Nachricht weiterleiten, und wenn sie eine Telefonnummer hinterließe, würde er die auch weitergeben. In diesem Augenblick bot Nalini ihm Sex an. Gillon war verblüfft. »Meine Liebe, dazu kommt es in meinem Büro nicht jeden Tag, nicht einmal zu Hause«. Er lehnte ab. Sie beharrte darauf. Sie könnten die Papiere auf dem Tisch beiseiteräumen, dann triebe sie es gleich hier und jetzt mit ihm auf der hölzernen Schreibtischplatte, und anschließend nenne er ihr Adresse und Telefonnummer. Gillon blieb unerbittlich. Nein, das käme wirklich nicht in Frage, sagte er. Würde sie bitte ihre Kleider anbehalten? Sie brach zusammen und weinte. Sie habe kein Geld, sagte sie. Das wenige, was sie mitgenommen hatte, habe sie verbraucht, um vom Haus der Eltern ihrer Freundin in Surrey zur Agentur zu kommen. Wenn er ihr, sagen wir, hundert Pfund leihen könnte, gäbe sie ihm das Geld so bald wie möglich zurück. Als Andrew Wylie die Geschichte hörte, sagte er: »Sie hatte in dem Augenblick keine Chance mehr, in dem sie Gillon um Geld bat. Das war ein verhängnisvoller Fehler.« Gillon richtete sich zu voller Größe auf und führte sie zur Tür.
Mehrere Tage vergingen, vielleicht eine Woche. Dann stellte ihm die Polizei in der Hermitage Lane eine Frage. Ob er, wollte Phil Pitt wissen, eine Dame namens Nalini Mehta kenne oder irgendwas mit ihr zu tun gehabt habe? Er erzählte dem Beamten, was er wusste. »Warum?«, fragte er. »Ist ihr was passiert?« Etwas war passiert. Sie war aus dem Haus der besorgten Eltern ihrer Freundin
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