Joseph Anton
verschwunden, denen sie endlos über ihre intime Beziehung zu Salman Rushdie erzählt hatte, dem Mann, mit dem sie bald zusammenleben wollte. Als man sie zwei Tage lang vermisste, hatte das beunruhigte Paar bei der Polizei angerufen. Angesichts der Lage, in der sich Mr Rushdie befinde, sagten sie, und wenn man bedenke, wie offen sie über ihn redete, könnte ihr jemand etwas angetan haben. Es vergingen mehrere Tage, ehe ein Streifenpolizist sie am Piccadilly Circus fand, mit ungekämmtem Haar, noch in dem Sari, den sie trug, als sie fünf, sechs Tage zuvor aus Surrey fortgefahren war. Jedem, der zuhören wollte, erzählte sie, dass sie ›Rushdies Freundin‹ sei, dass sie beide sehr ›verliebt‹ seien und dass sie auf seine Bitten hin nach England geflogen war, um bei ihm zu leben.
Die Eltern ihrer Bekannten aus Delhi wollten sie nicht zurück. Die Polizei besaß keinen Grund, sie festzuhalten; sie hatte kein Verbrechen begangen. Sie wusste nicht, wohin. Er rief ihre ehemalige Literaturdozentin Maria an und fragte: »Können Sie uns helfen, Ihre Eltern ausfindig zu machen?« Zum Glück konnte sie. Nach anfänglichem Zögern und einigen abwehrenden Behauptungen in dem Sinne, dass mit ihrer Tochter doch alles in Ordnung sei, willigte Nalinis Vater, Mr Mehta, schließlich ein, nach London zu kommen und sie nach Hause zu holen. Später folgten noch ein paar Briefe, dann blieben sie aus. Das, hoffte er, war ein gutes Zeichen. Vielleicht befand sie sich auf dem Weg der Besserung. Ihr Wunsch, geliebt zu werden, war groß gewesen und hatte sie zu Wahnvorstellungen getrieben. Nun empfing sie hoffentlich die echte Liebe und Fürsorge ihrer Familie, die es ihr gestatteten, jener Falle zu entkommen, die ihre Psyche für sie gestellt hatte.
Damals ahnte er nicht, dass seine Psyche, noch ehe das Jahr um war, ihm ebenfalls eine Falle stellen würde und dass auch er, in seiner verzweifelten Sehnsucht nach Liebe, sich in selbstzerstörerische Wahnvorstellungen stürzen würde wie in die Arme einer Geliebten.
*
Er hatte Racheträume, detaillierte Träume, in denen seine Kritiker und Möchtegern-Mörder beschämt und barhäuptig vor ihn traten und um Vergebung baten. Er schrieb sie auf, und jedes Mal ging es ihm einige Sekunden lang besser. Er arbeitete an dem Essay, der sein Schweigen brechen sollte, sowie an dem Herbert-Read-Vortrag, und in ihm wuchs die Überzeugung, er könne sich erklären, könne die Menschen zur Einsicht bringen. The Guardian brachte eine widerliche Anzeige für einen Artikel von Hugo Young: das Bild eines bandagierten Pinguins, darunter die Zeile: EMPFINDET RUSHDIE KEIN BEDAUERN ? Als Hugo Youngs Artikel dann erschien, verstärkte er jenen Prozess, der die Schuld von den Männern der Gewalt auf das Ziel ihrer Attacken verlagerte, indem Young verlangte, er solle ›sich schämen für das, was er angerichtet‹ habe, was ihn allerdings nur noch entschlossener machte, standhaft zu bleiben und zu beweisen, dass er im Recht war.
Es war der erste Jahrestag der Bücherverbrennung in Bradford. Eine Zeitungsumfrage bei hundert britischen Buchläden hatte ergeben, dass 57 für die Publikation einer Taschenbuchausgabe von Die satanischen Verse waren, 27 dagegen, 16 hatten keine Meinung. Der Sprecher des Rates der Moscheen in Bradford sagte: »Wir können die Sache nicht auf sich beruhen lassen; sie ist entscheidend für unsere Zukunft.« Kalim Siddiqui schrieb in einem Brief an The Guardian : »Wir (Muslime) müssen die Todesstrafe für Rushdie fordern.« Einige Tage später reiste Siddiqui nach Teheran und erhielt bei Ayatollah Al Khamenei, Khomeinis Nachfolger, eine Privataudienz.
Er schrieb Tag und Nacht und legte nur eine Pause ein, wenn er mit Zafar zusammen sein konnte. Es gab ein letztes zauberhaftes Wochenende in der alten Pfarrei unter Miss Bastards liebevoller Aufsicht. Marianne, die meist schlecht gelaunt war, weil sie nicht zum Schreiben kam und fand, sie habe kein Leben, sie lebe ›eine Lüge‹ und ihre Bücher könnten durch ihr gemeinsames Leben mit ihm nur scheitern, war ein wenig fröhlicher als gewöhnlich, und er schaffte es, sich nicht zu fragen, warum er wieder mit ihr zusammen war. Als sie Little Bardfield endgültig den Rücken kehrten und zurück in die Hermitage Lane fuhren, erhielt er Besuch von Mr Greenup, der ihm sagte, dass es ihm nicht gestattet sei, den Herbert-Read-Vortrag zu halten. Da war wieder dieses Wort ›gestattet‹, das ihn, wie dessen Bruder ›erlaubt‹, zu einem
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