Joseph Anton
den Sprung ins Dunkle zu wagen, gerade weil dies einen Schritt ins Unbekannte bedeutete – ein Heranwachsender, der intuitiv bereits die Fähigkeit seines künftigen erwachsenen Ichs erahnte, dort überleben, gar gedeihen zu können, wohin ihn seine Wanderungen führten, ein Jugendlicher, der zu leicht, vielleicht gar ein wenig zu skrupellos dem Traum von der ›Ferne‹ folgte, was natürlich auch hieß, der Langeweile des vertrauten ›Daheim‹ zu entkommen und sich ohne allzu großes Bedauern von der betrübten Mutter, den Schwestern zu verabschieden. Vielleicht ein wenig von allem. Jedenfalls machte er den Sprung, und vor seinen Füßen gabelte sich der Weg der Zukunft. Er folgte dem westlichen Pfad und hörte auf, der zu sein, der er hätte sein können, wäre er zu Hause geblieben.
Ein rosafarbener Stein, eingelassen in die nach dem berühmten Schuldirektor Dr. Arnold benannte Doctor’s Wall, die sich um die legendenumrankten Sportplätze im Close zog, trug eine Inschrift, die vorgab, eine geradezu revolutionäre Tat zu feiern. »Zur Erinnerung an die Heldentat von William Webb Ellis«, stand dort, »der in schöner Missachtung der damaligen Regeln des Fußballspiels zum ersten Mal den Ball aufnahm, um damit loszusprinten, und so das charakteristische Merkmal des Rugbyspiels erfand.« Allerdings galt die Webb-Ellis-Geschichte als zweifelhaft, und umstürzlerische Tendenzen förderte die Schule schon gar nicht. Hier wurden die Söhne von Börsenmaklern und Anwälten erzogen, und »eine schöne Missachtung der Regeln« stand keineswegs auf dem Lehrplan. Beide Hände in die Hosentaschen stecken war gegen die Regeln. Ebenso ›Laufen auf den Korridoren‹. Fagging dagegen, also der Brauch, dass ein jüngerer Schüler einem älteren Schüler unbezahlte Dienste leistete, war erlaubt – ebenso die Prügelstrafe. Körperliche Züchtigung konnte vom Hausleiter, aber auch von dem Jungen erteilt werden, den man zum Haussprecher ernannt hatte. In seinem ersten Schulhalbjahr war ein gewisser R. A. C. Williamson Haussprecher und hängte den Rohrstock unübersehbar über die Tür zu seinem Arbeitszimmer. Die Kerben im Stock verrieten, wie oft er Prügel verabreicht hatte.
Er war nie geschlagen worden. Er war ein ›netter, stiller Junge‹, lernte die Regeln, hielt sich sorgsam daran und lernte auch den Schulslang, dics fürs Nachtgebet im Schlafsaal (vom lateinischen dicere – reden), topos für Toilette (vom griechischen Wort für Ort ) und das derbe oiks für die nicht dem Internat angehörenden Bewohner von Rugby, einer Stadt, die außer für ihre Schule vor allem für die Produktion von Zement bekannt war. Allerdings wurden die drei Fehler nie vergeben, obwohl er versuchte, sich so gut wie möglich anzupassen. In der Oberstufe gewann er die Queen’s Medal für einen Aufsatz im Geschichtsunterricht über Napoleons Außenminister, den klumpfüßigen, zynischen, amoralischen Wüstling Talleyrand, für den er sich nachdrücklich einsetzte. Er wurde Sekretär des Debattierklubs und verteidigte wortreich das fagging , was bald nach der Beendigung seiner Schulzeit abgeschafft wurde. Er stammte aus einer konservativen indischen Familie und gehörte keineswegs zu den Radikalen. Rassismus sollte er jedoch nur allzu gut kennenlernen. Wenn er in sein kleines Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er des Öfteren einen gerade geschriebenen Aufsatz in Fetzen zerrissen und über seinen roten Sessel verstreut vor. Einmal schrieb jemand Kanaken raus an seine Zimmerwand. Er biss die Zähne zusammen, schluckte die Beleidigung und tat, was getan werden musste. Erst nach dem Abschluss erzählte er seinen Eltern, wie die Schule für ihn gewesen war (und als er es ihnen erzählte, waren sie entsetzt, weil er all diesen Kummer für sich behalten hatte). Seine Mutter litt unter seiner Abwesenheit, sein Vater zahlte ein Vermögen, um ihm die Schule zu ermöglichen, also sagte er sich, es wäre nicht recht, sich zu beklagen. Bei den Briefen nach Hause handelte es sich folglich um seine ersten fiktiven Erzählungen, in denen er über idyllische Schultage im Sonnenschein berichtete und über Kricket. Dabei war er in Kricket gar nicht gut, und Rugby war im Winter bitterkalt, erst recht für einen Jungen aus den Tropen, der nachts noch nie unter schweren Decken gelegen hatte und dem es nicht leichtfiel, unter solchem Gewicht zu schlafen. Wenn er aber die Decke zurückschlug, fror er, also musste er sich auch an diese Last gewöhnen, und das tat er.
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