Joseph Anton
»Will nicht, kann nicht, will nicht, kann nicht, will mich dem Tanz nicht anschließen.« Da war sein privater Choral, den er sich selbst vorsang.
Ehe er Rugby verließ, tat er noch etwas Schreckliches. Schulabgängern war es gestattet, einen ›Examensverkauf‹ abzuhalten, wo alte Tische, Lampen und sonstiger Krimskrams für eine kleine Summe an jüngere Schüler abgegeben werden durften. Er hängte eine Auktionsliste an die Innenseite seiner Arbeitszimmertür, auf der die äußerst moderaten Preise für seinen überflüssigen Besitz verzeichnet waren, und wartete. Die meisten Gegenstände wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf, doch besaß er noch seinen roten Sessel, den sein Vater für ihn gekauft hatte. Ein Sessel mit nur einem Vorbesitzer galt beim Examensverkauf als begehrte, hochwertige Seltenheit, weshalb für das rote Prunkstück auch einige ernsthafte Angebote abgegeben wurden. Zum Schluss blieben zwei interessierte Bieter übrig: einer seiner fags , seiner Schuldiener, ein gewisser P. A. F. Reed-Herbert, allgemein nur ›Weed Herbert‹ genannt, ein kleiner, brillentragender Wurm, der ihn ein wenig verehrte; und ein älterer Junge namens John Tallon, dessen Elternhaus in der Bishop’s Avenue stand, der Nordlondoner Millionärsstraße, weshalb er sich ein hohes Angebot leisten konnte.
Als das Bieten dem Ende zuging – das höchste Angebot kam von Reed-Herbert und lag bei fünf Pfund –, hatte er seinen schrecklichen Einfall. Insgeheim bat er John Tallon, ein irrsinnig hohes Angebot abzugeben, irgendwas um die acht Pfund , versprach ihm zugleich aber, das Geld nicht einfordern zu wollen, sollte es das Höchstgebot bleiben. Und dann, während der dics , erklärte er Weed Herbert mit ernster Miene, ihm sei bekannt, dass Tallon, sein reicher Rivale, bereit sei, noch höher zu gehen, vermutlich gar bis zwölf Pfund. Er sah, wie Weed Herberts Gesicht in sich zusammenfiel, bemerkte dessen Enttäuschung und holte zum Todesstoß aus. »Aber wenn du mir jetzt – sagen wir – zehn Pfund auf die Hand gibst, könnte ich die Auktion beenden, und der Sessel wäre verkauft.« Weed Herbert sah nervös drein. »Das ist viel Geld, Rushdie«, sagte er. »Denk drüber nach«, erwiderte Rushdie großzügig, »während du deine Gebete sprichst.«
Kaum waren die dics vorbei, schluckte Weed Herbert den Köder. Der macchiavelistische Rushdie lächelte beruhigend. »Ausgezeichnete Entscheidung, Reed-Herbert.« Kaltblütig hatte er den Jungen überredet, gegen sich selbst zu bieten und das eigene Höchstgebot zu verdoppeln. Der rote Sessel hatte einen neuen Besitzer. Ach ja, die Macht der Gebete.
Dies geschah im Frühjahr 1965. Neuneinhalb Jahre später, während des britischen Wahlkampfes im Oktober 1974, schaltete er den Fernsehapparat ein und sah das Ende einer Ansprache des Kandidaten der äußersten Rechten, der rassistischen, faschistischen, vehement ausländerfeindlichen Nationalen Front. Der Name des Kandidaten wurde auf dem Bildschirm eingeblendet: Anthony Reed-Herbert . »Weed Herbert!«, schrie er entsetzt auf. »Mein Gott, ich habe einen Nazi aus ihm gemacht!« Schlagartig war ihm alles klar. Weed Herbert, der von einem verschlagenen, gottlosen Kanaken dazu verführt worden war, viel zu viel Geld auszugeben, hatte während seiner ganzen verwurmten Kindheit eine bittere Wut gehegt und war ein verwurmter Erwachsener und rassistischer Politiker geworden, um sich so an allen Kanaken, ob mit oder ohne roten Sessel, rächen zu können. (Aber war es derselbe Weed Herbert? Könnte es zwei von der Sorte geben? Nein, dachte er, das musste der kleine, jetzt nicht mehr so kleine P. A. F. sein). Im Kampf um den Wahlkreis Leicester-Ost erhielt Weed Herbert in der Wahl von 1974 sechs Prozent aller Wählerstimmen, insgesamt 2967, zur Nachwahl um Birmingham Ladywood im August 1977 ließ er sich ein weiteres Mal aufstellen und wurde Dritter, noch vor dem Kandidaten der Liberalen. Zum Glück war dies sein letzter bedeutsamer Auftritt in der nationalen Szene.
Mea culpa , dachte der Verkäufer des roten Sessels, mea maxima culpa . In der wahren Geschichte seiner Schultage sollte es stets viel Einsamkeit und manchen Kummer geben, aber auch diesen Flecken auf seiner Charakterweste, dieses bislang nicht vermerkte, ungesühnte Verbrechen.
*
An seinem zweiten Tag in Cambridge ging er zu einer Versammlung von Erstsemestern in der King’s College Hall und sah zum ersten Mal den gewaltigen, einer Kuppel von Brunelleschi gleichenden Kopf
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