Joseph Anton
wiedersprach vehement und sagte, dies sei wahrlich nicht die Zeit für diese Art von britischem Antiamerikanismus, der respektlos und kriminalisierend gegenüber den unschuldigen Toten sei. Mr Proudie reagierte äußerst aggressiv. »Wir haben Sie geschützt, oder etwa nicht?« Als würde das seine Haltung rechtfertigen. In der Diskussion, die folgte, wären sie beinahe handgreiflich geworden.
Er schrieb einen zweiten Artikel, in dem er schloss: »Wenn der Terrorismus besiegt werden soll, muss die Welt des Islam die säkularistisch-humanistischen Grundprinzipien an Bord nehmen, auf denen die Moderne gründet. Andernfalls wird die Freiheit für ihre Länder ein unerreichbarer Traum bleiben.« Damals hielten viele das bestenfalls für ein Hirngespinst und schlimmstenfalls für die törichte Weigerung eines Liberalen, die Unverwüstlichkeit der islamischen Weltanschauung zu erkennen. Ein Jahrzehnt später versuchten die jungen Menschen in der arabischen Welt, in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und anderswo, ihre Gesellschaften ebendiesen Prinzipien entspre chend zu erneuern. Sie wollten Arbeitsplätze und Freiheit, keine Religion. Dass sie bekamen, was sie wollten, war nicht gesagt, doch dass sie es wollten, hatten sie der Welt zweifelsfrei bewiesen.
*
Es war ein wunderschöner Herbst in New York, doch die Stadt war nicht mehr sie selbst. Er ging durch die Straßen und sah in allen Gesichtern den gleichen verstörten Blick. Laute Geräusche waren Omen des wiederkehrenden Untergangs. Jedes Gespräch war ein Akt der Trauer, jede Versammlung glich einer Totenwache. Dann kehrten die Lebensgeister allmählich zurück. Eines Tages wurde die Brooklyn Bridge wegen einer angeblichen Bedrohung gesperrt, und statt mit Furcht zu reagieren, waren die Leute wütend über die Unannehmlichkeiten. Das war das I’m-walking-here- New York, das er liebte. Es fand seinen Groove wieder. Die Transporteinschränkungen unterhalb der Vierzehnten Straße bestanden zwar nach wie vor, doch sie wurden weniger. Die Freiheitsstatue war noch immer für Besucher geschlossen, doch sie würde wieder öffnen. Das entsetzliche Loch im Boden und die ebenso düstere Leere im Himmel darüber waren zwar noch da, und unter der Erde brannte das Feuer immer noch, doch selbst diese Qual ließ sich ertragen. Das Leben würde den Tod überwinden. Es würde nicht mehr so sein wie zuvor, doch es würde gehen. In dem Jahr verbrachte er Thanksgiving bei Paul, Siri und Sophie Auster, und auch Peter Carey und Alison Summers waren da, und sie sagten Dank für Sophies und Alisons Überleben und für alles, was gut war in der Welt und mehr Wertschätzung verdiente denn je.
Die Geschichte seiner kleinen Schlacht ging ebenfalls zu Ende. Das Vorspiel war vorüber, und nun hatte die Welt mit dem Hauptakt zu kämpfen. Nach allem, was ihm widerfahren war, und nach dem un säglichen Verbrechen gegen diese Stadt, wäre es einfach gewesen, dem Hass auf die Religion und deren Anhänger zu erliegen, in deren Namen all dies geschehen war. Jeder, der nur annähernd arabisch aussah, bekam in den folgenden Wochen und Monaten etwas von dieser Gegenreaktion zu spüren. Junge Männer trugen T-Shirts mit der Aufschrift: GEBT MIR NICHT DIE SCHULD , ICH BIN HINDU . Viele Taxifahrer mit muslimischen Namen schmückten ihre Cabs mit Flaggen und patriotischen Aufklebern, um dem Groll ihrer Passagiere abzu wenden. Doch auch in puncto Zorn legte die Stadt insgesamt Zu rückhaltung an den Tag. Die Masse wurde nicht für das Verbrechen von ein paar wenigen verantwortlich gemacht. Auch er verwahrte sich gegen Wut. Zorn machte einen zur Kreatur derer, die ihn heraufbeschworen hatten, und gab ihnen zu viel Macht. Zorn tötete den Verstand, auf den es jetzt mehr denn je ankam, um sich über den Unverstand zu erheben.
Er beschloss, an die Natur des Menschen und die Universalität ihrer Rechte, Ethiken und Freiheiten zu glauben und sich dem relativistischen Irrglauben, der den Schmähungen militanter Gläubiger ( wir hassen euch, weil wir nicht so sind wie ihr ) und ihrer bedauerlicherweise häufig linksstehenden Sympathisanten im Westen zugrunde lag, zu widersetzen. Wenn die Kunst des Romans etwas zu offenbaren vermochte, dann war es die Natur des Menschen als große Konstante in sämtlichen Kulturen, an allen Orten und zu allen Zeiten, und dass, wie Heraklit es zweitausend Jahre zuvor gesagt hatte, das Ethos des Menschen, sein Dasein in der Welt, sein Daimon sei, das Leitprinzip seines Lebens –
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