Joseph Anton
Den Rest seines Lebens brachte er damit zu, um die Rückkehr nach Rom zu flehen, doch dies wurde ihm nie gewährt. Ovids Leben war damit zunichte gemacht, doch seine Dichtung überdauerte das Rö mische Reich. Der Dichter Mandelstam kam in einem von Stalins Arbeitslagern zu Tode, doch seine Dichtung überdauerte die Sowjetunion. Der Dichter Lorca wurde von Generalissimus Francos Falangisten ermordet, doch seine Dichtung überdauerte Francos tyrannisches Regime. Die Kunst war stark, ihre Künstler weniger. Die Kunst konnte womöglich für sich selbst sorgen. Künstler brauchten Verteidiger. Als er in Not war, hatten seine Künstlerkollegen ihn verteidigt. In Zukunft würde er das Gleiche für jene tun, denen es ähnlich ging, die sich ebenfalls gegen Grenzen stemmten, sie überschritten, sie missachteten; Künstler, die sich dagegen wehrten, dass Mächtige und Geistliche Linien in den Sand zogen und verboten, sie zu überschreiten.
Er hielt die ›Tanner Lectures‹ in Yale. Sie trugen den Titel ›Überschreiten Sie diese Grenze‹.
Was den Kampf um Die satanischen Verse anbelangte, war nach wie vor nicht klar, ob er in einem Sieg oder in einer Niederlage endete. Das Buch hatte sich nicht unterdrücken lassen und sein Autor ebenso wenig, doch die Toten blieben tot, und ein Klima der Angst war entstanden, dass es Büchern wie seinem schwerer machte, veröffentlicht oder vielleicht sogar geschrieben zu werden. Andere Religionen folgten bald dem islamischen Beispiel. In Indien griffen hinduistische Extremisten Filme, Filmstars (es gab heftige Proteste gegen den Superstar Sha Rukh Khan, und das nur, weil er gesagt hatte, bei einem Turnier in Indien sollten auch pakistanische Kricketspieler zugelassen werden) und wissenschaftliche Arbeiten an (wie beispielsweise James Laines Biografie des Marathen-Anführers Shivaji, durch die sich dessen zeitgenössische Bewunderer derart ›beleidigt‹ fühlten, dass sie die Wissenschaftsbibliothek in Pune angriffen, in der Laine eine Zeitlang geforscht hatte, und zahlreiche unwiederbringliche antike Schriften und Objekte zerstörten). In Großbritannien griffen Sikhs den Sikh-Autor des von ihnen missbilligten Theaterstücks Behzti (Schande) an. Und die islamische Gewalt ging weiter. In Dänemark brach nach der Veröffentlichung der sogenannten ›Mohammed-Karikaturen‹, die den Zorn islamischer Extremisten erregt hatten, ein mit Axt und Messer bewaffneter, der radikalen al-Shabaab-Miliz zugehöriger Somalier in das Haus des Karikaturisten Kurt Westergaard in Å rhus ein. In Amerika war die Yale University Press zu feige, in einem Buch, das sich mit dem Fall der ›Mohammed-Karikaturen‹ befasste, besagte Karikaturen abzudrucken. In Großbritannien wurden dem Verleger eines Buches über des Propheten Mohammeds jüngste Frau Briefbomben nach Hause geschickt. Bis zur Überwindung des Zeitalters der Drohungen und Ängste war es noch ein langer Weg.
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Während das Jahr 2001 sich dem Ende neigte, war die Bühnenadaption der Royal Shakespeare Company von Mitternachtskinder auf dem Weg nach Amerika, wo sie in Ann Arbor, Michigan, und dann im Apollo Theater in Harlem gespielt werden sollte; während des Gastspiels in New York wurde er eines Abends nach der Aufführung auf der Bühne interviewt, und einer seiner verwegensten Träume wurde wahr: einmal im Apollo auf der Bühne stehen! Zur gleichen Zeit schrieb er an Shalimar der Narr . Schließlich war es das, was er war, ein Geschichtenerzähler, ein Gestaltenschöpfer, ein Erschaffer von Dingen, die es nicht gab. Es war klug, sich aus der Welt der Stellungnahmen und Polemiken zurückzuziehen, sich wieder dem zu widmen, was er am meisten liebte, der Kunst, die sein Herz, seinen Verstand und seinen Geist von Jugend an bestimmt hatte, in die Welt des Es war einmal zurückzukehren, des kan ma kan , es war und war nicht so, und die Reise zur Wahrheit über das Wasser des schönen Scheins anzutreten.
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Von seinem dickens’schen Sessel des Lose-Enden-Zusammenfüh rens in der Zukunft aus sah er das musikalische Talent seiner Nichte Mishka erblühen; er sah, wie seine Nichte Maya eine glückliche Laufbahn als Lehrerin kleiner Kinder einschlug; er sah die Hochzeit seiner Nichte Meena, Tochter seiner verlorenen Schwester Bunno. Er sah Zafar, der einen guten Job machte und glücklich war, und Milan, der ebenfalls zu einem großartigen jungen Mann heranwuchs. Und er sah sich und Elizabeth, die sich wieder gut verstanden. Bill Buford ließ sich
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